Konzertreview: Tocotronic
Unser Redakteur Bertrand Klimmek (der Radiotrinker) hat Tocotronic bei ihrem Auftritt im Tollhaus live gesehen. Hier sein Review:
Mit gemischten Gefühlen betrat man am 1. August 2015, genau ein Vierteljahr nach Erscheinen ihres „Roten Albums“ am symbolträchtigen 1. Mai, das Karlsruher Tollhaus, um die Gruppe Tocotronic live aufspielen zu sehen. Was ist denn daran komisch? Die Location: ein Kulturpalast, der in den vergangenen Jahrzehnten die kommerzielle Eventisierung der multikulturell-alternativen Feuilletonkultur mit Bravour bestanden hat, sodaß man sich bei den meisten Anlässen dort unter grün wählenden Anwältinnen und Physiotherapeuten wähnt, wenn man den Laden betritt. Die Band: eine aus der sogenannten Hamburger Schule, die irgendwann mal die denkwürdige Textzeile „Ich verabscheue euch wegen eurer Kleinkunst zutiefst“ eingesungen hat. Wie geht das zusammen? Das Unglück muß doch zurückgeschlagen werden!
Als mich am 3. April 1995 der Negator zum Konzertbesuch dieser neuen Band namens Tocotronic ins Jubez locken wollte („die sind aus Hamburg!“), dachte ich „Was ist denn das für ein bescheuerter Bandname? Ein Gimmick? Muß ich da wirklich hin?“ Allein die Information, daß die grantelnden Grandseigneurs der Hamburger Schule höchstselbst, Blumfeld, das schöne Zitat „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“ von just dieser neuen Band Tocotronic entlehnt haben (Zitatenpop = Diskurspop = Poplinke = Hamburger Spezialität), konnte meine Vorbehalte gegenüber dem Bandnamen dann doch zerstreuen: ich sah ein wunderschönes Konzert der drei unverbrauchten, noch jungen wilden Poppunk-Melancholiker mit ihren krassen Bratzgitarren. Wir saßen (süddeutsch: hockten) dann noch mit der Band vorm Jubez auf dem Kronenplatz herum, und Negator, ohnehin ein Connaisseur Hamburger Problembands, befragte sie zu diesem und jenem. Kurt Cobain war noch nicht ein Jahr tot, und dennoch gehörte die Zukunft unzufriedenen, laut ihre Instrumente malträtierenden, kaum prätentiösen „power trios“. Das war einerseits kurz vor dem Sendestart von Querfunk, andererseits kurz nach Erscheinen der ersten LP „Digital ist besser“ (beide 1995). Diese Platte, obgleich noch nicht so reflektiert daherkommend wie spätere Werke von Tocotronic, ist heute ein Klassiker und taugt sogar zum Manifest, geht es doch dezidiert gegen jede Art von Selbstgenügsamkeit, insbesondere aber gegen die kollektive Gemütlichkeit der Alternativszene (z.B. „Freiburg“, „Samstag ist Selbstmord“; dankenswerterweise wurden beide Lieder übrigens nun, 2015, immer noch dargeboten): „Ich weiß nicht, wieso ich euch so hasse / Tanztheater dieser Stadt / Ich bin alleine und ich weiß es / Und ich find es sogar cool / Und ihr demonstriert Verbrüderung“
Wohltuend war das, diese Zeilen mal wieder laut zu hören, obwohl sie vermutlich gar nicht auf den Auftrittsort gemünzt waren, das Lied „Freiburg“ war eine der sage und schreibe drei Zugaben, zu denen die Band jeweils wieder auf die Bühne gerufen wurde. Schon als wir die Konzerthalle betraten, hörten wir den postpunk-artigen Riffbrezler „Aber hier leben, nein danke“ einsetzen und somit in voller Pracht genießen.
Wie kaum eine andere weiß diese Band, daß das sich Verweigern vor Posen aller Art in der solchermaßen zugerichteten Welt nur eine weitere Pose ist: Im Zweifel für den Zweifel. Tocotronic wissen um die immanenten Probleme von Pop, von Warenförmigkeit, von Klischees, von Phrasen, von alledem. Sie haben einen sehr eigenen Umgang damit erfunden bzw. über die Jahre entwickelt, um sich nicht fortwährend vor sich selbst (als Rockstars etwa) erschrecken zu müssen – wie das dümmere Bands und Routiniers ohnehin nie erleben werden. So kann es auch nicht anders als ironisch verstanden werden, wenn Sänger Dirk von Lowtzow das Publikum in abgestandener Stadionrock-Manier wiederholt mit „Hallo Karlsruhe“ oder „Danke, Karlsruhe“ anspricht. Ich fühle mich z.B. mit Städte- oder Ländernamen („Hallo Deutschland! Wir rocken euch!“)* in keinster Weise angesprochen. Vor genau zehn Jahren hatte man sich noch, zusammen mit der Band Von Spar, unter dem Motto Deutschland, du Opfer! unmißverständlich positioniert: „Statt sich dem kollektiven Mitleid und dem neuen Geschichtsrevisionismus anzuschließen, feiern wir am Vorabend des 8. Mai in Berlin mit einem Konzert den Sieg der Alliierten über Deutschland.“
Dabei verblüfft es doch, daß Tocotronic („deutsche Indierock-Band“) seit Ende der neunziger Jahre mit jedem neuen Album die Top 10 erobern, während sich Blumfeld („deutschsprachige Hamburger Popband“) und die Sterne („deutschsprachige Hamburger Band“) allenfalls, aber immerhin, irgendwo in den Top 100 herumtummelten. Geht das mit rechten Dingen zu? Oder sind nennenswerte Anteile der Tocotronic-Käuferschaft eben doch die Kettcar-, die Sportfreunde-Stiller-, die Tomte-Fraktion, die – frisch, fromm, fröhlich, frei – mit ihrem echt deutschen Befindlichkeitspop und konformistischer Seelenschau doch eigentlich die Antipoden bilden zur kritischen Hamburger Schule? Neulich sah ich beim Zappen im Fernsehen ein Konzert dieser notorischen Band Kraftklub, deren Name (ähnlich wie der von Wir Sind Helden) ja schon höchst suspekt ist. Der Sänger erschreckte mich mit einer Soldaten- bzw. HJ- bzw. Kommißkopf-Frisur, so weit ist es also schon wieder gekommen, und das bei als linksliberal geltenden Kulturschaffenden (auch trat die Band uniformiert auf)! Nun ja, Tocotronic jedenfalls sind daran unschuldig, denn eine Band, die mit Christoph de Babalon zusammen veröffentlichte, kann so schlecht nicht sein. Auf dem Konzert im Tollhaus waren jedenfalls – wenn man dem oberflächlichen optischen Eindruck überhaupt trauen darf – erstaunlich wenig Hipster-Konformisten, aber auch erstaunlich wenig Indie-Nonkonformisten-Nerds („Ich merke, ich spreche jetzt verkürzt“: Thomas Ebermann, ebenfalls aus Hamburg übrigens). Seitdem das Schimpfen auf Kunstrock und Progrock nicht mehr dissidentes Punk-Gebaren, sondern längst stromlinienförmiges Mainstream-Geunke ist, ist auch ersichtlich, warum Tocotronic sich heutzutage eine hübsche psychedelische Lichtshow in gleißend-kräftigen Farben blau/rot und dazu noch noisige Shoegaze-Momente leisten.
Zwar nicht im Alternativkulturtempel, sondern auf dem pop-volksgemeinschaftlichen grünen Rasen der Günther-Klotz-Anlage („Das Fest“) durfte ich vor einer Woche ein noch schöneres, nämlich das fabelhafte Konzert der Band Die Nerven erleben. Diese drei, ebenfalls ein power trio, hatten alles, was Tocotronic 1995 auch hatten: ein gerüttelt Maß Fundamentalopposition, musikalisch-ästhetisch höchst überzeugend (durch die Schule Blumfeld / Slint / Sonic Youth gegangen), sympathische „Bühnenpräsenz“ in bewährter New-Wave-Antiästhetik, allerdings ohne jede Koketterie oder Klischeehaftigkeit und noch entschiedener gegen Selbstgenügsamkeit. Als wäre es 1980; in einem besetzten Haus; „als die Welt noch unterging“ (Frank Apunkt Schneider).
Wie auch immer: Die Welt ist ein Tollhaus und das Unglück muß zurückgeschlagen werden.
der radiotrinker („Hörsturz“)
*) schon der fürchterliche NDW-Clown Markus („Ich will Spaß“) dichtete ja 1982, in noch unverdächtiger Zeit: „Deutschland, Deutschland, spürst du mich? Heut Nacht komm ich über dich“ ...
Zum Weiterlesen:
(BK)
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„Ästhetik der Verkrampfung“: http://www.ventil-verlag.de/titel/1614/deutschpop-halts-maul
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Plattenkritik: http://jungle-world.com/artikel/2015/18/51889.html
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tolles Interview: http://jungle-world.com/artikel/2013/02/46932.html
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Hamburger Schule: http://jungle-world.com/artikel/2007/09/19191.html