Die Türkei nach den Anschlägen in Ankara: Interview mit Sevinç Sönmez

Fast 100 Tote und viele Hundert Verletzte: So lautet die erschütternde Bilanz des verheerenden Bombenanschlags auf eine Demonstration in der türkischen Hauptstadt Ankara am 10. Oktober 2015. Zu den Hintergründen des Attentats und der generell angespannten Lage in der Türkei bat der Querfunk Sevinç Sönmez zum Interview, ihres Zeichens Mitglied im Bundesvorstand der DIDF (Demokratik İşçi Dernekleri Federasyonu; deutsch: Föderation der Demokratischen Arbeitervereine) und Vorsitzende des Internationalen Jugend- und Kulturvereins Karlsruhe.

+++ Am heutigen Dienstag, den 12.10. wird um 17:30 Uhr eine Mahnwache auf dem Stephanplatz abgehalten und anschließend zu einem Schweigemarsch unter dem Motto „Für Frieden und Solidarität mit der Demokratie- und Friedensbewegung in der Türkei“ aufgebrochen. +++

 

Querfunk: Hallo Sevinç, wie geht es dir, nunmehr rund 48 Stunden nach den schockierenden Nachrichten aus der Türkei?

Sevinç Sönmez: Um genau zu sein geht es mir sehr schlecht. Ich trauere um die Verstorbenen, ich trauere mit den Hinterbliebenen und ich bin wütend auf die Verantwortlichen.

Kannst du uns bitte kurz erläutern, wer genau zu der Demonstration aufgerufen hatte und um was es den Teilnehmern dabei ging?

Ja natürlich. Es war eine Demonstration, an der Menschen teilnahmen, die Frieden, ein Ende der Kriegspolitik und die friedliche Lösung in der kurdischen Frage forderten. Zu dieser Demonstration riefen die beiden Gewerkschaftsverbände DİSK und KESK, die Berufsverbände TMMOB und TTB auf. Unterstützt wurden sie durch politische Parteien wie HDP und EMEP sowie verschiedene Organisationen.

Verantwortlich für die beiden Bombenexplosionen scheinen zwei Selbstmordattentäter des Islamischen Staates (IS) zu sein. Wie schätzt du diese Theorie ein und was will der IS damit in der Türkei erreichen?

Ich schätze diese Theorie als richtig ein, genau wie vor einigen Monaten in Suruc, wo sich ein fast identischer Anschlag ereignete. Ich denke nicht, dass dieser Anschlag primär ein Anschlag war, der dem IS zugute kommt, sondern eher der AKP-Regierung.

Gleich nach dem Anschlag wurden Stimmen laut, die den türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan und seine Partei AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi; deutsch: Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung/Entwicklung) der Schuld bezichtigten. Auch in einem Rundschreiben der DIDF heißt es „[D]ie politische Verantwortung dieses größten Anschlags in der türkischen Geschichte tragen Erdogan und die AKP-Regierung“. Bitte erläutere uns diese Zusammenhänge.

Schon seitdem der IS in Syrien mit dem Morden angefangen hat, gibt es starke Beziehungen mit der Regierung in Ankara. Von Waffenlieferungen und Grenzöffnungen bis zu Behandlungen von IS-Kämpfern in türkischen Krankenhäusern, konnten wir in den vergangenen Monaten vieles beobachten. Ein genau so grauenhafter Anschlag ereignete sich in Suruc, wo viele junge Menschen, die den Leuten in Kobane helfen wollten und den Frieden forderten, von IS-Attentätern ermordet wurden. Die Drahtzieher sind dieselben, die Täter dieselben und wie wir sehen können auch die Opfer dieselben. Jegliche Opposition gegen Erdogan und seine Regierung wird als Terror bezeichnet und mit aller Macht bekämpft. Seit den Parlamentswahlen am 7. Juni 2015 sehen wir, dass Erdogan vor nichts zurückschreckt, um seine Macht zu sichern. Die Anschläge von Diyarbakir und Suruc, die Belagerung ganzer kurdischer Städte, die Hetzjagd gegen die HDP und Medien sind lediglich einige Beispiele für die brutale Gewalt des türkischen Staats. Und jetzt auch der Anschlag in Ankara, in der Hauptstadt der Türkei, der eigentlich sichersten Stadt des Landes, der Stadt, in der die Regierung sogar über jeden Vogel, der in der Innenstadt herumfliegt, Bescheid weiß.

Die Bomben des 10. Oktober rissen viele HDP-Anhänger in den Tod. Die Halkların Demokratik Partisi (deutsch: Demokratische Partei der Völker) kann man quasi als die Partei der Kurden bezeichnen. Was kannst du uns zum leider wieder aufgeflammten Kurdenkonflikt in der Türkei berichten?

Zunächst einmal würde ich die HDP nicht nur als Partei der Kurden bezeichnen, sondern als Partei für jeden Bürger, der sich für Frieden, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung einsetzt. Es starben auch viele Gewerkschaftler, viele Mitglieder der EMEP. Aber auch Menschen, die einfach ihren Willen zum Frieden kundtun wollten, kamen bei diesem feigen Anschlag ums Leben. Zum Konflikt kann ich sagen, dass dieser bewusst durch die türkische Regierung wieder aufgeflammt ist. Nach dem enttäuschenden Ergebnis der AKP nach den letzten Parlamentswahlen starteten sie eine große Hetzkampagne gegen die HDP und all ihre Unterstützer/Wähler. Die HDP ist nämlich daran „schuld“, dass die AKP nicht ihre gewünschte Mehrheit hat und viele Sitze im Parlament verloren hat. Erdogan instrumentalisiert diesen Konflikt, um wieder mehr Stimmen zu bekommen und vor allem, um die HDP für die kommenden Neuwahlen zu schwächen.

Und ein anderer wichtiger Aspekt für die brutale Politik Erdoğans und der AKP-Regierung ist die Unterstützung der HDP-Forderungen in den westlichen Teilen der Republik. Dort denken sehr viele Menschen um, sie unterstützen die Forderungen der HDP.

Wie wird es deiner Meinung nach in der Türkei in den nächsten Wochen weitergehen? Schließlich wird am 1. November ein neues Parlament gewählt...

Das ist natürlich schwer vorauszusagen. Bis zu den Neuwahlen wird meiner Meinung nach noch einiges passieren, denn Erdoğan wird alles tun, um sein gewünschtes Ergebnis zu erzwingen und wird wahrscheinlich auch versuchen, den Anschlag in Ankara zu instrumentalisieren, für den er selbst die Verantwortung trägt. Jedoch hoffe ich, dass die Menschen in der Türkei sich trotz allem nicht beirren lassen von dieser Politik und sich weiterhin für Frieden einsetzen und auch die HDP wählen werden.

Wir danken dir für das Interview, die letzten Worte gehören dir.

Die Anschläge haben sowohl in der Türkei als auch hier in Europa eine große Protestwelle ausgelöst. So sagte IGB-Generalsekretärin Sharan Burrow beim jährlichen „General Council“ des IGB, der gerade im brasilianischen Sao Paolo stattfindet: „Unsere Gedanken sind bei den Familien derer, die bei den Anschlägen ihr Leben verloren haben, und bei denen, die verletzt wurden“. Der IGB erklärte seine volle Solidarität mit den türkischen Schwesterorganisationen, die sich furchtlos für Frieden, Demokratie und gleiche Rechte für alle eingesetzt haben. In nahezu allen europäischen Städten finden seit Samstag Protestaktionen statt. Die DIDF hat für den 12. und 13. Oktober bundesweit zu Protesten ausgerufen. An diesen beiden Tagen finden auch in der Türkei Generalstreiks sowie Schüler- und Studentenboykotts statt. Auch hier in Karlsruhe werden wir gemeinsam mit den demokratischen und fortschrittlichen Gruppen und Organisationen und Gewerkschaften am heutigen Dienstag, den 12.10. um 17:30 Uhr eine Mahnwache auf dem Stephanplatz abhalten und anschließend zu einem Schweigemarsch unter dem Motto „Für Frieden und Solidarität mit der Demokratie- und Friedensbewegung in der Türkei“ aufbrechen.

Als Redner haben bisher zugesagt:

Dieter Bürk (Vorsitzender DGB Stadtverband Karlsruhe)

Elvis Capece (Gewerkschaftssekräter und Geschäftsführer NGG Nordbaden und Mitglied im Landesvorstand der Linkspartei)

Dervis Yildiz (Kurdisches Gesellschaftszentrum Karlsruhe)

Jens Kany (VVN-BdA)

DIDF Karlsruhe

Helmut Woda (DKP Karlsruhe)

Ceren Akbaba (Alevitisches Kulturzentrum)

Catherine Devaux (Amnesty International Karlsruhe)

IL

Ich möchte auch von hier aus noch einmal die demokratische Öffentlichkeit in Deutschland zur Solidarität mit der Demokratie- und Friedensbewegung in der Türkei aufrufen. Senden Sie bitte Protestschreiben an die türkische Regierung und fordern Sie die Bundesregierung sowie Bundeskanzlerin Merkel noch vor ihrem bevorstehenden Besuch in der Türkei dazu auf, die politische Unterstützung sofort zu beenden!

 

Abkürzungsverzeichnis:

DISK: Konföderation der Revolutionären Arbeitergewerkschaften der Türkei (TR: Devrimci İşçi Sendikaları Konfederasyonu)

KESK: Dachverband von Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes in der Türkei (TR: Kamu Emekçileri Sendikaları Konfederasyonu)

TMMOB: Türkischer Verband der Ingenieurs- und Architektenkammer (TR: Türk Mühendis ve Mimarlar Odaları Birliği)

TTB: Ärztekammer der Türkei (TR: Türk Tabipleri Birliği)

EMEP: Partei der Arbeit (TR: Emek Partisi)

 

(sk)

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