Kritik als Denkform. Von den Voraussetzungen kritischen Denkens

Kritisch? ... sind wir doch irgendwie alle. Sollte man meinen. Irgendetwas doof zu finden oder abzulehnen, macht jedoch noch keine Kritik aus, nicht mal ein Urteil. Es ist zunächst eine unverbindliche Befindlichkeitsäußerung. Um also den Unterschied zwischen Gemoser und Kritik herauszukitzeln, muß man tiefer graben; hierzu ist es ebenso notwendig wie lohnend, philosophisch zu werden. (Philosophie = „Freude am Denken“)
 

„An die Wurzeln gehende Gesellschaftskritik sieht sich wegen ihrer extremen Minderheitsposition heute schnell in der Situation eines Menschen, der in eine Irrenanstalt geraten ist, deren Insassen erkennbar alle dem selben Wahn verfallen sind. Jeder Versuch, die Lage zu klären, führt unweigerlich dazu, selbst für verrückt gehalten zu werden. Normal ist schließlich immer die Mehrheit.“
Claus Peter Ortlieb, 1947–2019


Mit Claus Peter Ortlieb ist vor wenigen Wochen ein Denker und Theoretiker verstorben, dem wichtige Impulse in Sachen fundamentaler Gesellschafts- und Wissenschaftskritik zu verdanken sind.
Obschon Professor für Mathematik, bestand Ortliebs Leidenschaft darin, die eigenen – beschränkten – Denkformen des Positivismus, jene eingeschliffenen Verfahrensweisen selbstgenügsamen Formalisierens und Modellierens, infrage zu stellen und in subversiver Absicht zu überschreiten. Wir präsentieren heute einen bemerkenswerten Aufsatz Ortliebs aus dem Jahr 2000, dessen Titel schon für sich spricht: „Gesellschaftskritik als Erkenntniskritik. Anmerkungen zu der Frage, warum Kritik der Theorie bedarf und wo deren Grenzen liegen“. Denn oft wird man sich ja schon mal gefragt haben, warum – eigentlich evidente – kritische Basisbanalitäten bei so wenigen Leuten verfangen, sprich auf intellektuelle Resonanz stoßen. Inwiefern also Schwierigkeiten der Erkenntnis (oder auch nur Widrigkeiten des Erkenntnisinteresses) auf der Seite der Rezipienten zu suchen sind oder nicht doch auch im Gegenstand selbst. Leute, die der weitverbreiteten Ansicht sind, die real existierende sei zwar nicht die beste aller Welten, aber doch die einzige, müssen sich fragen lassen, wie ernst sie sich selbst nehmen.

Ähnlich grundsätzlich versucht Leo Elser in einem Vortrag aus dem Jahr 2011, Wesensmerkmalen gelingender Kritik nachzuspüren.
Nach Marx ist die Kritik der Religion die Voraussetzung aller Kritik. Doch besteht auch in gottlosen Zeiten wie den unseren, in denen das Bekenntnis gegen die etablierte Religion zum guten Ton gehört, kein Mangel an Götzen, die der „durch seine Gesundheit erkrankte Menschenverstand“ (Adorno) aufbietet, um nur eines nicht werden zu müssen: Vernunft. Vernunft und Kritik, die in unvernünftigen Verhältnissen notwendig dasselbe sind, teilen mit der traditionellen Theologie aber ihren Bezug auf das Ganze und den Anspruch auf Wahrheit. So wie sich die bloße Meinung gegen die Kirche als Religionskritik mißversteht, so auch die Meinung gegen die Banken als Kapitalismuskritik. Beides ist mitnichten „verkürzte Kritik“, die aufs richtige Maß zu verlängern sich linke Intellektuelle zur Aufgabe gemacht haben, sondern zum Ressentiment versteinerte Denkform dessen, was ohnehin ist, aber nicht mehr sein darf, wenn Vernunft wirklich werden soll.
 

„Alles Denken (ohne Ausnahme) ist in seinen Formen durch die Gesellschaft determiniert, in der es stattfindet.“
Claus Peter Ortlieb

 

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Sendetermin
Sonntag, 20. Oktober 2019 - 20:00 bis 22:00
Wiederholung
Freitag, 1. November 2019 - 14:00 bis 16:00
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