Glaube, Arbeit, Feinderklärung. Entzauberung einer Lichtgestalt

Dr. Martin Luther: Stifter deutschen Glaubens, Moralist, Haßprediger

2017 war das Lutherjahr, vor 500 Jahren soll der Reformator seine Thesen an eine Kirchentür genagelt haben.

Doch wer sich mit Luther und der deutschen Geschichte beschäftigt, blickt in einen Abgrund: War der mutige Streiter für Gerechtigkeit, von dem staatlich protegierter Religionsunterricht und deutsche Filmkunst noch heute erzählen, nicht doch nur ein gefährlicher Eiferer und Fanatiker?
Die Wirkungsgeschichte des "Reformators" ist verheerend, so viel ist klar:

  • Zentrum des vor allem im 16. Jahrhundert grassierenden Hexenwahns ist das mitteleuropäische Gebiet, das heute Deutschland heißt. Wer hier Zufall walten sieht, möge das tun.
  • Die sprichwörtliche deutsche Arbeitsmoral/Arbeitswut, die sogar bürgerliche Soziologen als Ausfluß eines freudlosen Protestantismus und ideologische Grundlage des Kapitalismus dechiffrieren, konkurriert in Form des Exportweltmeisters noch heute die europäische Wirtschaft nieder.
  • Demütige (und ebenso sprichwörtlich deutsche) Obrigkeitshörigkeit ist zwar auch anderswo zuhause, doch kann sie sich hierzulande ganz prima auf die Propaganda des großen Reformators berufen. Man denke nur an preußischen Tugenden: Ordnung, Fleiß, Bescheidenheit und Pflichtbewußtsein.
  • Der blanke Haß des braven Arbeitsmannes auf die Unproduktiven - Frauen, Juden, Behinderte - kommt letztendlich im Nationalsozialismus zu sich, der sich ausdrücklich auf Luther berufen konnte - und das auch tat. Selbstverständlich ist das der evangelischen Kirche heute recht peinlich, inszeniert man sich doch (wie vor 500 Jahren) als das progressive Gegenmodell zu Katholizismus und Papsttum. Da kann ein notorischer Antisemit ganz schön stören.

Pietistisch-quietistisches Schweigen hilft allerdings nicht mehr, vielmehr prätendiert man längst, sich kritisch mit solcherlei "Verfehlungen" des eigenen Glaubensstifters auseinanderzusetzen. (Außerdem relativiere sich doch vieles in historischer Betrachtung.) Doch anders, als es viele gern hätten,* sind diese ärgerlichen "Aspekte" des großen Reformators nicht Beiwerk, sondern zutiefst integrale Bestandteile des Protestantismus. Luthers Theologie/Ideologie ist aus einem Guß, darüber können noch so gesalbte und fein austarierte "kritische" Worte im Lutherjahr nicht hinweg täuschen.

 

"Die Saat des Judenhasses, die [Martin Luther ...] ausstreut, schießt zwar zu seinen Lebzeiten nur verkümmert empor. Sie geht aber darum nicht spurlos verloren, sondern wirkt noch lange durch die Jahrhunderte fort; wer immer aus irgendwelchen Motiven gegen die Juden schreibt, glaubt das Recht zu besitzen, triumphierend auf Luther zu verweisen."
Reinhold Lewin, 1911. (ermordet 1943 in Auschwitz)

 

 

*) vgl. beispielsweise die konformistischen Haarspaltereien über guten Patriotismus und bösen Nationalismus

 

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Sendetermin
Sonntag, 17. Dezember 2017 - 20:00 bis 22:00
Wiederholung
Freitag, 5. Januar 2018 - 14:00 bis 16:00
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