Dialektik – ein Annäherungsversuch

Es gab Zeiten, da war "Dialektik" in der philosophischen wie auch gesellschaftskritischen Szene in aller Munde: ein neuer Modus der Erkenntnis, eine innovative Art zu denken.
Und es gab Zeiten, da wurde "die Dialektik" belächelt: ein prätentiös aufgeblasenes Herangehen, große denkerische Fassade, nichts dahinter ... eine unwissenschaftliche Denk-Esoterik,² eine intellektuelle Mode und bloße Pose ... zu allem Überfluß noch ein buzzword staatssozialistischer Chefideologen.

Gerhard Stapelfeldt beleuchtet in seinem Vortrag nun nicht so sehr systematisch, was es genau mit Dialektik auf sich hat – ein solches Unterfangen ist, aus immanenten Gründen des schwer abgrenzbaren Gegenstandes, allzu oft am Schematismus gescheitert. Vielmehr spürt er der Geschichte des Begriffs der Dialektik nach, ebenso wie der Gesellschaft, in der sich dieses Denken entfaltet. Daher geht es um die Dialektik der Geschichte ebenso wie um die Geschichte der Dialektik.
Ohnehin ist sich die philosophische Szene seit Menschengedenken nicht einig, ob "Dialektik" nun die Bewegungsform eines realen Sachverhalts bezeichnet – oder die dieser Bewegung adäquate, möglichst facettenreiche Reflexion, sprich das Denken selbst (als wäre dieses nicht real). Jedenfalls hat die so verstandene Dialektik deshalb im Milieu der Gesellschaftskritik einen so guten Klang, weil doch schließlich – im Modus der Befreiung, der Emanzipation – die "reale", äußere Welt konvergieren soll mit ihrer Erkenntnis, ja erkennenden Gestaltung, Veränderung und Negation durch die Gesamtheit der denkenden und leidensfähigen Menschen.

War der Begriff der Dialektik schon in der Antike geläufig, so bezeichnete er doch dort etwas anderes³ als seit der Epoche der europäischen Aufklärung: "Dialektik" ist hier zunächst die Einheit bzw. das Spannungsverhältnis von "objektiver", sprich realhistorischer Entwicklung und "subjektiver", geisteswissenschaftlicher Bewältigung dieser Realität. Zur großen Universalie der Moderne wurde die Dialektik durch Hegel (1770–1831). Dieser wurde bekanntlich zum großen Stichwortgeber für Gesellschaftskritiker von Marx über Adorno bis heute.

 

Gerhard Stapelfeldt ist Autor einer mehrbändigen Buchreihe zum Themenkomplex:
"Der Geist des Widerspruchs. Studien zur Dialektik" (ca ira Verlag)

 
Niemand war je im Land Nirgendwo: Ou Tópos. Dennoch scheint es gut bereist. Seit es eine schriftliche Überlieferung gibt, wird darüber berichtet. Viele wußten, wo es zu finden war, und kannten die Wege dorthin; manche schienen dort gewesen zu sein. Erst Thomas Morus aber teilte den Namen mit: Utopia. Solange die Welt noch unbekannt war, waren sich Schriftsteller der Existenz Utopias sicher. Solange bewußt war, daß die Geschichte eine »Schlachtbank« (Hegel), eine Geschichte von Kriegen und »Klassenkämpfen« (Marx) ist, solange brachen Sozialphilosophen nach Utopia auf, um die »Schlachtbank« als eine solche begreifen zu können und der Hoffnung einen Ort zu geben.

Freilich glich, nach einigem zeitlichen Abstand, das Land Nirgendwo oft allzusehr der erlittenen Gegenwart, bisweilen erschienen der Reflexion die Verhältnisse dort noch unerträglicher als im verachteten Dasein. Das Bestehende hielt stets die gesellschaftliche Phantasie besetzt: weil es unaufgeklärt blieb, weil Utopia in der Fremde gesucht wurde – am Götterhimmel, auf neuen Kontinenten, in unberührten Enklaven, in der unschuldigen Phantasie.

Der Geist des Widerspruchs: die Dialektik, scheint aus der neoliberalen Gesellschaft und Politik-Ökonomie getilgt. Der Imperativ lautet: Anpassung an undurchschaubare, irrationale Verhältnisse. »Anpassung« fordert die neoliberale Theorie in Abwendung von jeder Form der Vernunft und des Rationalismus; Anpassung fordert die politische Administration – vom Internationalen Währungsfonds und der Weltbank bis zur EU-Kommission und bis zur Agenda 2010-Rede des Bundeskanzlers Schröder – im Namen der Globalisierung als eines transzendentalen Schicksals. Anpassung ist auch der Imperativ der neoliberalen Universität, der im Kontext der globalen »Wissensgesellschaft« und »Wissensökonomie« die Rolle der Produktion von verwertbarem Wissen und verwertbaren Menschen, die Auswendig-Entfremdetes auswendig zu reproduzieren haben, übertragen wurde. Der Imperativ der Anpassung setzt explizit einen gesellschaftlichen »Antirationalismus« (Hayek) voraus, der unmittelbar eine gesellschaftliche Erinnerungslosigkeit einerseits, eine gesellschaftliche Hoffnungslosigkeit andererseits impliziert. Wem das Bestehende das Unerkennbare ist, verleugnet die Möglichkeit, die Verhältnisse genetisch und utopisch zu transzendieren, um sie erkennen zu können. Der Neoliberalismus verwirft jede Kritik: die theoretische ebenso wie die praktische.

Unter diesen antirationalen Verhältnissen, in denen die Zerstörung der Aufklärung realitätsgerecht propagiert wird, scheint ein Widerspruch gegen das Bestehende nur als ein ohnmächtiges, dogmatisches Anrennen, das die Verhältnisse eher befestigt denn zum Tanzen bringt, möglich. Angesichts dessen ist der Logos des Widerspruchsgeistes zu bewahren und zu schärfen, ohne den es weder ein Bewußtsein der Gegenwart, noch eine Erinnerung, noch die »Aussicht auf eine neue Gesellschaft« (Marx) – auf vernünftige Verhältnisse – geben kann. Das freilich gelingt nicht im schlichten Rückgriff auf die Überlieferung: der globale Neoliberalismus gewinnt seine Legitimation aus der »Dialektik der Aufklärung«, deren gegenwärtiges Resultat er positiviert. So ist die Möglichkeit des Widerspruchsgeistes an dessen neoliberaler Negation freizulegen.

 

²) Es soll sogar Leute geben, die Dialektik und Dianetik verwechseln.

³) in etwa: Streitlust oder die Kunst der Gegenrede

 

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Sendetermin
Sonntag, 17. Februar 2019 - 20:00 bis 22:00
Wiederholung
Freitag, 1. März 2019 - 14:00 bis 16:00
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