Bauchredner des Ressentiments, Türöffner zum Salon
Dreifacher Befreiungsschlag: Vor Kühnheit zitternd, mit letzter Tinte
Martin Walser galt als einer der renommiertesten linken Schriftsteller der Bundesrepublik. 1998 wurde er mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet; die Dankesrede, die er zu diesem Anlaß vor höchsten Repräsentanten und Honoratioren hielt, geriet zum Skandal. Im Duktus eines rechten Populisten bekannte er "vor Kühnheit zitternd", daß er die "Dauerpräsentation unserer Schande" (gemeint war die mediale Thematisierung der Naziverbrechen) nicht länger ertrage und sich angewöhnt habe "wegzuschauen". Acht Jahre nach der Wiedererlangung deutscher Einheit und Souveränität sprach der Germanist damit, wie kaum ein prominenter Intellektueller vor ihm, der applaudierenden Festgesellschaft ebenso aus der Seele wie der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Was folgte, war eine unheimliche Eintracht von Stammtisch und Feuilleton, Mob und Elite.
Mit Günter Grass outete sich im Jahr 2006 ein anderer deutscher Großschriftsteller und kehrte heim ins Volk zurück. Der sozialdemokratische Vorzeigeintellektuelle, der sich jahrzehntelang gegen konservative und restaurative Entwicklungen der alten Bundesrepublik positioniert hatte, bekannte im Alter von fast 80 Jahren, daß er Angehöriger der SS gewesen war. Obwohl in jedem Lexikon nachzulesen ist, daß "die SS das wichtigste Terror- und Unterdrückungsorgan im NS-Staat" und "maßgeblich an der Durchführung von Kriegsverbrechen und dem Holocaust beteiligt" war und nach 1945 in Gänze als verbrecherische Organisation verboten wurde, behauptete Grass, in den elitären Nazi-Gesinnungsorden "eingezogen" worden und unschuldig geblieben zu sein. 2012 legte er mit einem aufschlußreichen antisemitischen Gedicht nach, es hieß "Was gesagt werden muß", die Grass'sche Variante von "Das wird man ja wohl noch sagen dürfen".
Als dritter wurde der Leistungsträger und Ehrenmann Thilo Sarrazin zum großen Stichwortgeber der sich entpuppenden Neuen Rechten in Deutschland, er zwar kein Intellektueller, aber finanzpolitischer Spitzenfunktionär der Bundesrepublik. Der Sozialdemokrat tat sich 2010 als Erbforscher und Demograf hervor, der Volkswirt geriet dabei in die Nähe zu völkischer Ideologie und Rassismus. Seine Version des Zwischenkriegsklassikers "Der Untergang des Abendlandes" in Buchform hieß "Deutschland schafft sich ab".
Was war es, das diese kultivierten Leute zu Bauchrednern der nationalen Gemütslage werden ließ? Oder waren sie das immer schon – und es hatte nur niemand bemerkt? Geht man zu weit, wenn man sie die Ahnherren von Halle und Hanau nennt? Alle haben, gewollt oder nicht, einer Diskursverschiebung Vorschub geleistet und so als Türöffner zur Salonfähigkeit fungiert. Ohne die als Musterdemokraten und Meisterliteraten bekannten Männer wäre viel des chauvinistischen, revisionistischen Unrats und re-etablierten Volksempfindens in den Echokammern von Kneipe, Klowand und "sozialen Medien" verblieben, anstatt sich in Gestalt fragwürdiger Volkstribune sogar auch wieder in Parlamenten und Talkshows breit zu machen.
In seinem Vortrag "Die Brandstifter" zeichnet der Historiker Hannes Heer, selber Jahrgang 1941, die drei Fälle nach und befragt sie auf ihre ideologische Funktion hin.