Adorno muß erledigt werden!
Kindliches Staunen, negative Dialektik
Theodor W. Adorno (1903–1969) verdankt seine herausragende Stellung als der vielleicht luzideste Philosoph, Kultur- und Gesellschaftskritiker des vergangenen Jahrhunderts nur zum einen der außerordentlichen Weite und Tiefe seines Œuvres; zum anderen war die institutionelle Position, die er in den 50er und 60er Jahren bekleidete, historisch einzigartig. Sie war bedingt durch den großen Bruch, der doch keiner wurde: die Entnazifizierung und reeducation der Nachkriegszeit. Die antifaschistische Besatzungsmacht der Alliierten verhalf dem intellektuellen Nestbeschmutzer auf seinen Frankfurter Lehrstuhl. Vergleichbar kritische Geister wurden zuvor und werden seither von den Futtertrögen akademischer Forschung und Lehre ferngehalten.
Natürlich ist es nicht ganz falsch, wenn es allerorten heißt, sein Einfluß habe "das geistige Klima der Bundesrepublik geprägt". Aber "maßgeblich" oder gar "wie kein zweiter"? Diese Welt sähe gewiß anders aus, wenn sein Denken wirklich massenhaft Wirkung gezeitigt hätte. In der Fanschar des Denkers finden sich akademische Streber, deren symbolisches Pensum von Kritikperformanz im Sinne der fdGO austariert ist, ebenso wie radikale Dissidentinnen und Staatsfeinde, die sich allerdings in Sachen Stilempfinden noch eine Menge vom Meister abschauen können. Denn Adorno, das ist auch Feilen an der Form. Hier steht nie etwas in Klammern, und Absätze gehen in seinen Schriften manchmal über ganze Seiten.
Das wohl Bemerkenswerteste an Adorno ist, daß bei ihm außerordentliche sprachliche Gewandtheit und kompromißlose Gesellschaftskritik, subjektives Verfahren und Objektivitätsanspruch, Voluntarismus und Materialismus, Form und Inhalt, zarte Sensibilität und verbindlichster Gegenstandsbezug, intellektuelle Wissenschaftlichkeit und subtiles ästhetisches Empfinden bis hin zur Idiosynkrasie nicht nur Hand in Hand gehen, nebeneinander sich addierende oder komplementäre Aspekte abgeben, sondern geradewegs Eins sind: integrale Momente des einen Denkens. Genau dies macht ihn zum Prototyp eines Dialektikers. Der um die Bedingtheit all dessen weiß, was dem Betriebsblinden als naturgegeben gilt.
Vor fünfzig Jahren, am 6. August 1969, starb Theodor Wiesengrund Adorno überraschend auf einer Urlaubsreise. Er wurde nur 65 Jahre alt.
Mochte es für die gesellschaftliche Linke, nach den Höhenflügen der sechziger und siebziger Jahre, eine ernüchternde, ja deprimierende Erfahrung gewesen sein zu erleben, daß ihre diskursive Lufthoheit nur eine fragile und zeitweilige gewesen ist, so blieb diese Niedergeschlagenheit Adorno erspart. Jedoch nicht nur aufgrund seines frühen Todes; der dem Nationalsozialismus entronnene hatte ungleich härtere Erfahrungen bereits Jahrzehnte vorher durchleben müssen. Er wußte besser als nachgeborene Aktivisten, daß man es nicht nur mit reaktionärer Tagespolitik oder opportunistischem Personal zu tun hatte, dem mit Kampagnen zu kontern ist, sondern mit einer mächtigen – wenn auch nicht allmächtigen – Tendenz der Geschichte, die er, wiederum mit Marx, als Vorgeschichte der Menschheit verstand. Und gegen die anzustinken ein ganzes Lebenswerk ausmachen würde, das mehr noch als Fleiß nach Tiefe verlangt.
Wenn es überhaupt eine Traditionslinie geben kann, so sind die, die heute fortführen, worum es Adorno zu tun war, sicher nicht diejenigen, welche das akademische Universum mit schlauen Kolloquien und nicht enden wollender Sekundärliteratur überschwemmen. Vielmehr sind hier und da vereinzelt kluge Autorinnen und Publizisten zu finden, die nicht aus Renommiergehabe oder karrieristischem Fortkommen heraus zu Werke gehen, sondern die mit Adorno auch sein radikales Weltverhältnis teilen, bis in die essayistische Form hinein:
"Ich habe kein hobby. Nicht daß ich ein Arbeitstier wäre, das nichts anderes mit sich anzufangen wüßte, als sich anzustrengen und zu tun, was es tun muß. Aber mit dem, womit ich mich außerhalb meines offiziellen Berufs abgebe, ist es mir, ohne alle Ausnahme, so ernst, daß mich die Vorstellung, es handele sich um hobbies – also um Beschäftigungen, in die ich mich sinnlos vernarrt habe, nur um Zeit totzuschlagen –, schockierte, hätte nicht meine Erfahrung gegen Manifestationen von Barbarei, die zur Selbstverständlichkeit geworden sind, mich abgehärtet. Musik machen, Musik hören, konzentriert lesen ist ein integrales Moment meines Daseins, das Wort hobby wäre Hohn darauf."
Je mehr diesen unscheinbaren Menschen, die Namen tragen wie Klaue, Quadfasel, Scheit, der Vorwurf anhaftet, elitär und selbstgefällig, verkopft und unverständlich zu sein, desto mehr ist das Gegenteil der Fall; sie wissen mit Adorno, daß mehr als der Geist der menschliche Körper, dieser "quälbare Leib" (Brecht), Quelle von Lust und Leid gleichermaßen ist. Überhaupt teilt das Schicksal, angefeindet und vergötzt worden zu sein wie kaum ein Intellektueller seiner Zeit, Adorno in dieser Intensität der ideologischen Konfrontation höchstens mit Sigmund Freud fünfzig Jahre zuvor und mit Karl Marx weitere fünfzig Jahre zuvor. Sie alle, die so wichtig waren, daß noch nach ihrem Tod so vehement nachgetreten werden muß, wurden Emigranten mit gutem Grund. Nichts verlogener, als wenn heute "das schlechteste Land der Welt" (FSK) mit ihnen sich zu schmücken versucht. Doch genau das geschah einmal mehr, als sich anno 2003 zu Adornos hundertstem Geburtstag eine Melange von Laudationes zweifelhafter Gratulanten über den toten Jubilar ergoß. Verkehrte Welt: Es war, als ob sich auf einmal Til Schweiger anmaßte, Worte über Georg Seeßlen zu verlieren; unerträglich, als wenn sich Dieter Bohlen über Mark Fisher verbreitet oder Torsun Teichgräber über Simon Reynolds.
Von derart geistlosem Nonsense aufs Schärfste herausgefordert, kompilierte nach dem letzten Adorno-Jubiläum 2003 Dirk Braunstein die dreistesten und unfreiwillig erhellendsten Passagen der toxischen Würdigungen und Glückwünsche: "Kulturindustrie is coming heim. Eine Vergangenheitsbewältigung"
Das Jahr 2019 zeigt nicht nur das fünfzigste Todesjahr Adornos an, auch die "Dialektik der Aufklärung", eines seiner Hauptwerke, wird 75 Jahre alt. Das 1944 verfaßte Buch erschien erst drei Jahre später, zunächst in einer winzigen Auflage von 2000 Exemplaren. Es darf wohl als das zugleich wichtigste, wuchtigste und finsterste Werk des Jahrhunderts bezeichnet werden. Die während Weltkrieg und Holocaust entstandenen "philosophischen Fragmente", so der Untertitel, gehen in der Jahrhunderte währenden Geschichte von Neuzeit und Moderne Trends und Indizien nach, die das paradoxe Kulminieren von bürgerlicher Gesellschaft und Aufklärung in jener eigentümlichen Barbarei befördert haben. Dabei wird der durchaus totalitäre Selbstlauf der Konkurrenzgesellschaft deutlich, lange bevor sich Modebegriffe wie Globalisierung durchsetzen konnten, die unverbindlichem Feuilletonismus sowieso angemessener sind. Ohnehin ist die kapitalistische Gesellschaft von Sachzwang und Selbsterhaltung für Adorno nicht bloß eine Machenschaft von Konzernen; vielmehr werden Analyse, Begriff und Darstellung der Gesellschaft der verhärteten Charaktere nur gerecht, soweit sie objektive und subjektive Bedingungen zusammendenken. Nicht erst der Exilant ist auf sein "beschädigtes Leben" zurückgeworfen, sondern jeder Mensch, der den Gedanken zuläßt und nicht konformistisch als den von Spaßbremsen denunziert. Daher jener hohe Stellenwert der Freudschen Psychoanalyse in der dialektischen Theorie:
"Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt."
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