1955–1965: Modernismus, Exotica, Surf
Musik aus einer anderen Zeit ... Musik aus einer anderen Welt?
"Die Frage ist jedoch, warum?
Die simple Antwort, daß es einfach geile Musik ist, reicht bei weitem nicht aus, um das Phänomen zu erklären."
Michael Koltan stellt in seinen Analysen fest, "daß es mit dem Exotischen beim musikalischen Exotismus gar nicht so sehr weit her ist.
Martin Dennys Vergleich mit dem Apfelkuchen, dem man eine Prise Mango hinzufügt, gilt nicht nur für die Instrumentierung, sondern für alle Elemente des musikalischen Exotismus: Im Grunde bleibt man beim Altvertrauten, das nur ein wenig aufgepeppt wird, damit es aufregend-fremdartig erscheint, ohne sich jedoch der Gefahr auszusetzen, sich tatsächlich mit etwas wirklich Fremdem konfrontiert zu sehen. Das heißt nun nicht, daß die Musik schlecht sein muß. Ein guter Apfelkuchen ist etwas Feines, und wenn ihm dann noch eine Spur Mango hinzugefügt wird, ist er möglicherweise superb.
Doch wir müssen diese weitgehende Äußerlichkeit der exotistischen musikalischen Mittel im Hinterkopf behalten, wenn wir uns nun der Ursachenforschung zuwenden. Stellen wir also die Frage: Woher kam diese Sehnsucht nach dem Fremdländischen, Exotischen gerade in den fünfziger Jahren?"
"Im zwanzigsten Jahrhundert explodiert schließlich die Begeisterung für musikalischen Exotismus, angefangen von der Tango-Leidenschaft zur Zeit des Ersten Weltkriegs über den Jungle Sound im Jazz der späten zwanziger Jahre bis hin zur Kuba-Welle der neunziger. Diese Allgegenwart des Exotismus in der Musik wirft deshalb zwei voneinander zu unterscheidende Fragen auf. Die eine Frage ist die, worauf überhaupt dieser Drang zum musikalischen Exotismus beruht. Und die andere, warum gerade Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre eine derartige Häufung musikalischer Exotismen auftritt."
Tatsächlich "läßt sich der musikalische Exotismus bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgen. Und im zwanzigsten Jahrhundert wurde er sogar von einer musikalischen Marginalie zu einem ganz zentralen Element der Populärkultur. Das verblüfft umso mehr, als das zwanzigste Jahrhundert sich gleichzeitig als eines erwiesen hat, das den rassistischen Ausschluß alles Fremden in mörderische Extreme getrieben hat. Offensichtlich scheint hier eine hochgradige Ambivalenz vorzuliegen [...]; ich will versuchen, mit Hilfe einiger Hypothesen aus der Psychoanalyse das Verhältnis des Fremden zur Kultur näher zu bestimmen."
"Der Exotismus spiegelt uns eine grundlegende Unzufriedenheit mit der gegebenen symbolischen Ordnung der Musik wieder. Das von Freud konstatierte Unbehagen in der Kultur ist auch ein Unbehagen in der Musik. [...] Statt dem Füttern des Egos durch exotische Einsprengsel ist es die Aufgabe ästhetisch anspruchsvoller Musik, das traumatisierende Reale in der Musik selbst wieder auftauchen zu lassen."
Des weiteren treibt uns die Frage um: Was ist Surfmusik?
Hier unternimmt Michael Koltan einen "kurzen erkenntnistheoretischen Exkurs [...], der begründet, warum der Ausdruck „Surfmusik“ nicht eine Klassifikation, sondern eine Idee bezeichnet und was den Inhalt dieser Idee ausmacht."
"Surfmusik hat zwangsläufig einige Gemeinsamkeiten mit anderen Formen instrumentaler Rockmusik. Es gibt gewisse musikalische Elemente, die immer wieder auftauchen, weshalb es leicht zu Verwechslungen kommen kann. Praktisch alles, was später Surfmusik auszeichnen sollte, ist bereits in den Jahren davor in dieser oder jener Form entwickelt worden. Doch in der Surfmusik ändern diese Elemente, wie später noch zu zeigen sein wird, ihren ursprünglichen Sinn."
"Kein Wunder, daß der Fortschritt im Rock’n’Roll vor allem im Instrumentalbereich stattfand. Mit innovativen Instrumentalaufnahmen konnte es auch kleinen Plattenfirmen gelingen, sich gegen die Übermacht der großen Konzerne, die die bekannten Gesangsstars unter Vertrag hatten, durchzusetzen."
"Surfmusik ist keine Abstraktion, die einfach das Gemeinsame aller Surfstücke umfaßt, dabei aber von ihren Spezifika absieht. Denn Surfmusik ist kein nachträgliches Gedankenkonstrukt, sondern ein ästhetisches und historisches Reales, philosophisch ausgedrückt: Surfmusik ist kein Begriff, sondern eine Idee. [...] Damit verändert sich in der Tat die ganze Fragestellung, nämlich von einer banausischen zu einer ästhetischen."
"Denn musikalische Elemente sind nicht einfach Zeichen, die etwas nichtmusikalisches abbilden. Ihren Gehalt schöpfen sie vielmehr aus ihrer Geschichte, aus der Verwendung in bestimmten historischen künstlerischen Kontexten. Dies führt dazu, daß dieser Gehalt den Künstlern selbst oft gar nicht direkt bewußt ist. [...] Die Idee liegt sozusagen in der Luft und wartet darauf, in unterschiedlichen Kunstwerken unterschiedlicher Künstler Gestalt anzunehmen. Der Grund hierfür ist, daß die Idee selbst ein gesellschaftliches Produkt ist; sie schlummert im Unter- oder Vorbewußten der Gesellschaft oder zumindest einer gesellschaftlichen Gruppe und sie braucht die Kunstwerke, um aus einem vagen gesellschaftlichen Gefühl zu einer historischen Realität zu werden."
"Die Mittelklasse-Teenager, die den überwiegenden Teil der Surf- und Surfmusik-Szene stellten, konnten in eine blühende Zukunft blicken. [...] Surfmusik repräsentierte eine konfliktfreie Utopie, die Möglichkeit einer Versöhnung von Individuum und Gesellschaft, von Gesellschaft und Natur, und zwar eine Versöhnung, die in der Tat, im Gegensatz zu späteren Hippie-Utopien, nichts Regressives an sich hatte. Doch angesichts unseres Wissens, daß diese Utopie nicht von Dauer war, offenbart sich, wenn wir genau hinhören, eine merkwürdige Leerstelle in der Surfmusik, die zu denken gibt."