Musikalischer Herbst: Der Fall Mark E. Smith (1957–2018)
Mit einer bemerkenswerten, sympathisch neurotischen Beharrlichkeit hat er sein Projekt, die Band The Fall, durchgezogen, 40 Jahre lang. Ob das einer obskuren Programmatik, einem kultursubversiven Masterplan folgte oder doch nur Ratlosigkeit geschuldet war (sicher wollte er nie wieder in den Docks von Manchester malochen müssen), werden wir nie erfahren. In kaum einem Nachruf fehlen die "66 Begleitmusiker", die Mark E. Smith im Laufe dieser Jahrzehnte "verschlissen" habe.
Schrullig bis zum Anschlag, ein Grantler, ein Kauz, eine Marke. The Fall waren erklärtermaßen die Lieblinge des Radio-Discjockeys² John Peel (1939–2004). Das allein schon macht die Band und ihren Chefdada Smith interessant. Mit ihrer verschrobenen, doch jederzeit einzigartigen Musik konnte man das Rundfunkpublikum immer wieder irritieren und erschrecken, belustigen und vergraulen. Ohne Zweifel gehören The Fall, das kryptische Kind von Mark E. Smith, zu den besten und einflußreichsten Bands der Geschichte der Popmusik, obwohl ihre Distanz zu jeglicher Art von Pathos, Inszenierung und Verbindlichkeit wohl legendär genannt zu werden verdient. Kunst war das eher nicht, höchstens unfreiwillig. Und auch keine postmodern grienende Ironie aus dem Querbezügebaukasten, wie sie z.B. die notorische Münchner Band FSK (ebenfalls Peel-Faves, aber eben Künstler) so gern bemüht. Smith war da eher der Houellebecq des Indie-Rock, ein bißchen sogar vom Erscheinungsbild her: ein hutzeliges, spiddeliges Männlein, das die Wahrheit spricht, in stereotypen Bewegungen unaufhörlich Alkoholika und Nikotin sich zuführend. Als knuffigen "Griesgram" und "Miesepeter" zeichnen ihn nun die Nachrufe.
Die besten Songs der Welt kommen eher nicht von The Fall, dennoch kenne ich keine Interpreten mit derart großem Œuvre, von denen ich blind jede Platte, günstig feilgeboten, ohne Risiko mitnehmen würde, so durchgängig konsistent und ästhetisch homogen ist das Niveau ihrer über 30 Alben von den frühen Achtzigern bis heute. Als ich mit 16 oder 17 zum erstenmal ein Stück von The Fall hörte, war das für mich die typische Independent-Band, so richtig schwierig und nervös, Musik für Erwachsene wohl. Ich verstand sie nicht so recht, sie war aber jedenfalls hochinteressant und auch ein bißchen geheimnisvoll: Irgendwann würde ich solche Musik verstehen lernen (und manchmal denke ich das noch immer). Stoisch vor sich hin rumpelnde Songs im wenig spektakulären Midtempo-Vierviertel, jederzeit dazu angetan, die korrupte Religion des positive thinking, Begleitideologie des Neoliberalismus, zu dementieren. Ernüchternde Unterhaltungsmusik, eine seltsame Mischung: irgendwie abgeklärt, also erwachsen im übelsten Sinne, aber eben doch nicht seinen Frieden gemacht mit der Welt, vielmehr noch eine große Rechnung offen mit ihr. Trotzdem kein Wutbürger, dieser Smith, eher ein Wutproletarier, aber im Modus: Idiosynkratiker/Schrat, also keiner, der sich irgendwo zusammenrotten wird.
Ich wußte gar nicht, daß The Fall aus Manchester stammen. Mit diesem Wissen aber und anhand Simon Reynolds' eindrücklicher Schilderungen der Stadt als eine einzige Industrieruine erklärt sich auch Smiths unverwechselbarer Gesang ein Stück weit: dieses eigentümliche Lallen, das mal besinnunslos dahin plappert, mal messerscharf Dinge auf den Punkt bringt; und auch beides. Nicht das Freudsche Couch-Setting, sondern der Alkohol fördert hier kryptische Wahrheiten zutage. Es ist, als dämmerten die – nicht selbst auferlegten – Versagungen von 150 Jahren Arbeitswahn wieder auf, als würden die Geister unzähliger vom Lohnarbeitsregime ausgesogener, um ihr Leben betrogener Seelen im Medium Smith erwachen und ausgelaugt brabbelnd ihre trostlosen Geschichten erzählen. 16-Stunden-Tag, 90-Stunden-Woche, Kinderarbeit, schreiende Armut, Schinderei, fiebriges Elend. Das ist alles lange her, und doch sehen die 16 Stunden Alltag heute irgendwie immer noch nach strenger Routine und wie Arbeit aus, auch wenn die Hälfte davon kompensatorisch im Fernsehsessel, im organisierten Freizeitbetrieb abgeleistet wird, beim Sport oder sonstiger Zerstreuung und Bespaßung. "Repetition, repetition, repetition." (Smith) Das Leben lebt nicht. Aber freilich ist Mark E. Smith kein Schmerzensmann, der am Kreuz (geschweige denn auf der Bühne) für irgendwen büßt. In die Pathosfalle ist er eben nicht getappt. Er bleibt uns erhalten als exterritorialer Kommentator, der es weder nötig hat, witzig zu sein, noch überaus geistreich. Sarkastisch ja, zynisch nicht.
"Ich habe keinen Ruhm, keinen Celebrity-Streß, ich sehe aus wie ein Taxifahrer", sagte John Peel, größter Fan und Förderer von The Fall, einmal über sich. Dasselbe trifft mehr noch auf Mark E. Smith zu, der allerdings über Peel meinte: "Wir sind keine Freunde." Es dürfte kaum eine derart anti-intellektuelle Band geben, die von Intellektuellen so geliebt wird wie The Fall. Daß der Musikgruppe ihre vielen Fans unter Intellektuellen scheißegal waren, war diesen Fans wiederum herzlich gleichgültig, gehörte es doch zum Markenkern von The Fall. Auf die Ehrerbietung dissidenter Fans und den eigenen Avantgarde-Status schien Smith eher zu spucken (ohne daß dies wohl-erzogenes, britisches Understatement gewesen wäre), wie er auch als Sänger die letzten Silbenfortsätze seiner Songzeilen so eigentümlich von sich schleuderte.
Bezeichnenderweise gibt es in Deutschland kein vergleichbar radikales Pop-Phänomen. The Fall sind ästhetisch nicht barrierefrei wie die Bots, Element Of Crime, Wizo oder Egotronic. Am ehesten vergleichbar vielleicht noch Die Goldenen Zitronen, aber auch erst seit Mitte der Neunziger, also fast 20 Jahre nach Smith und den seinen.
Nun könnte man einwenden, die Einstürzenden Neubauten seien doch ästhetisch viel radikaler gewesen in den frühen Achtzigern ... Doch das ist Quatsch: Die Neubauten haben, dank des ihnen eigenen Kunstpathos, schon in den Neunzigern ins Feuilleton gefunden – damals konnte man sich noch dagegen wehren –, ins Kulturbürgermilieu, ins Goethe-Institut, Kulturbotschafter der Bundesrepublik. Allzu viel schwarzer Rollkragen, zu viel Dandy-Koketterie, zu viel Existentialistenpose, zu deutsch. Kurz: das, was Punks Kunstkacke nennen. The Fall hingegen: Inbegriff ästhetischer Integrität, bis zuletzt.
Stilistisch sind The Fall wohl die typischsten, sicher aber hartnäckigsten Vertreter jener Richtung, die treffend als Post-Punk bezeichnet wird. War das Phänomen Punk schon recht bald ein zutiefst klischeehaftes Etwas, eine marktgängige Mode und Geschäftsidee, die prätentiöse Pose gegossen in Warenform, so schien die seinerzeit auch als New Wave bekanntgewordene Postpunk-Szene sich die Warnung eines alten Paten zu Herzen genommen zu haben: "Nimmt Punk die Reflexion auf dieses rückläufige Moment nicht in sich auf, so besiegelt er sein eigenes Schicksal." Und es ward Post-Punk.
The Fall jedenfalls hatten diese Lektion schnell gelernt. Jener Pate, der den Punks schon immer vorgehalten hatte, radikal sei eben nicht dasselbe wie ratzekahl, hatte längst die Abgefeimtheit des Popmusikbetriebs entlarvt, als er von der "grimmigen Scherzfrage" sprach, wo denn die famose rebellierende Jugend sei.³ Sein Pate wiederum hatte schon hundert Jahre zuvor den Trick des Punkrock (der auch – avanciert – der des Post-Punk bleiben sollte) erfunden und auf den Punkt gebracht: den Verhältnissen ihre eigene triste Melodie vorzuspielen, um sie endlich zum Tanzen zu bringen!
Dementsprechend kündet die Musik von The Fall von jener Langeweile und Zählebigkeit der spätkapitalistischen Gesellschaft, zumal im post-industriellen England der Thatcher-Ära. Daß diese Musik allerdings hier und heute noch so gut zutrifft, sagt auch schon alles über den Zustand der gegenwärtigen Welt aus, und das auf absehbare Zeit. Offenbar hatte Smith, ohne doch den Paten zu kennen, eine Ahnung davon, was jener formulierte: "Alle Kultur, samt der dringlichen Kritik daran, ist Müll."
Mark Edward Smith ist vergangene Woche, am 24. Januar 2018, gestorben.
²) und bekanntermaßen der spiritus rector von Hörsturz
³) Dummerweise hat er nie einen Punk-Titel gehört, er starb bereits 1969 im Urlaub. (Peel starb 2004 auch im Urlaub; die Guten scheinen immer auf Reisen zu sterben.)
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