Die gelehrigen Körper
Was macht einen Körper aus? Unausgesetzt geht er aus Techniken der Disziplinierung, der Abrichtung und Normierung hervor. Tief tragen sich Figuren der Macht in ihn ein und machen ihn zu einem kalkulierten und kontrollierbaren Gefüge geregelter Affektionen und abrufbaren Verhaltens. Die Entzifferung dieses Gefüges überfordert tradierte Begriffe und Zeichenordnungen in vieler Hinsicht. So sehr dieses Gefüge im Sichtbaren und Sagbaren zutage tritt, so wenig erschöpft es sich darin, sichtbar und sagbar zu sein. Klang, Geräusch und Rhythmus jedoch öffnen auf ihre Weise, was sich derart zurückzieht und verschließt. Sollte die Musik also wie eine „Sprache“ sein, dann weil sie die Affekte nicht weniger berührt und in Resonanz versetzt als die Regimes ihrer Anordnung. Wie schmerzhaft immer – der Ton zeichnet die Lehren nach, unter denen die Körper wurden, was sie sind. Er läßt die Lektionen, die ihn disziplinierten und kontrollieren, aus der Erinnerung auftauchen. Er inkorporiert und wiederholt sie. Nicht jedoch, um sie festzuschreiben und zu befestigen: ganz anders kann Musik ihre Dispositive und Wirkungen entziffern und freilegen, was ihnen virtuell vorangeht. Aus den gelehrigen Körpern taucht dann auf, was in Techniken der Disziplinierung und Kontrolle den Regelabständen der Macht ausgesetzt wurde. Etwas, woran eine „virtuelle Kampfstrategie“ (Foucault) anknüpfen kann, um diesen Ordnungen zu entgehen und Widerstand zu leisten (eine De-Codierung, die die Systeme der Codes heimsucht und möglicherweise zerrüttet). Insofern enthält Musik Elemente einer „Forschung“; in ihr artikuliert sich ein Wissen.
Das Konzert des Decoder Ensemble für aktuelle Musik sowie das begleitende Symposium sind Teil einer Reihe von Auftaktveranstaltungen, mit denen die Hochschule für bildende Künste Hamburg 2014 ein dreijähriges Graduiertenkolleg zu Fragen der „Ästhetiken des Virtuellen“ einleitete. Das künstlerisch-wissenschaftliche Nachwuchskolleg wendet sich – transdisziplinär zwischen Künsten und Wissenschaften – den verschiedenen Modalitäten zu, in denen das „Virtuelle“ zusehends an Bedeutung gewinnt, umso mehr jedoch einer intensiven Auseinandersetzung und klarerer Bestimmungen bedarf. Beide Veranstaltungen verdeutlichen beispielhaft, wie sich Wissenschaften und Künste einem gemeinsamen „Gegenstand“ zuwenden können, wobei vielfältige Zugänge interferieren.