Die aber nun wirklich sehr lange Marx-Nacht

Heute vor 200 Jahren, am Dienstag, dem 5. Mai 1818, wurde in Trier Karl Heinrich Marx geboren.

Zu diesem außergewöhnlichen Anlaß
drei Sondersendungen mit strammem Marx-Bezug:

  • 24:00 bis 2:00
    "Ein Werk mit Wirkung"
    Vortrag von Lars Quadfasel zzgl. einer kleinen Glosse von Manfred Dahlmann
     
  • 2:00 bis 4:00
    "Vom Versteinern des Marxismus. Karl Marx gegen seine vermeintlichen Liebhaber verteidigt"
    Ein Vortrag von Joachim Bruhn
     
  • 4:00 bis 6:00
    "Wagner und Marx - Staatsmusikant und Staatskritiker"
    Ein Vortrag von Gerhard Scheit

 

 

Zu den einzelnen Beiträgen:

 

I)

1867 erscheint in London Marx' berühmtes Hauptwerk Das Kapital, das im Untertitel beansprucht, eine "Kritik der politischen Ökonomie" zu leisten ... 1917 geschieht der historische Anlauf, diese Kritik praktisch werden zu lassen ... 1967 riecht es weltweit schon wieder nach Revolution, nicht zufällig erscheint im selben Jahr mit "Die Gesellschaft des Spektakels" ein Traktat, das wohl ein würdiger Nachfolger des Marx'schen Manifests genannt werden kann ... 2017 sieht die Welt ziemlich trostlos aus, und das auf technisch höchstem Niveau.

Obwohl Marx entschiedener Kritiker aller Religion war, sich gar als Wissenschaftler begriff, gilt sein kapitales Werk unter Spöttern als religiös verehrte Schrift – was nicht nur in der massenhaften weltweiten Verbreitung des Buches begründet liegt, sondern vor allem in seinem Anspruch, die grundlegenden Wirkprinzipien der bestehenden Gesellschaft freigelegt zu haben. Die Ökonomie als Schlüsseldisziplin der bürgerlichen Gesellschaft wird kritisch dechiffriert, man mag das Philosophie nennen. "Das Kapital" ist eines der ersten Modelle für Gesellschaftskritik überhaupt, oder genauer: für Ideologiekritik, denn das Handeln der Menschen läßt sich spätestens seit der Aufklärung nicht mehr von ihrem Denken abtrennen. Marx wollte sichergehen, daß nach einer politischen Revolution auch wirklich eine Umwälzung der Gesellschaft gelingen kann – und nicht bloß ein Umsturzversuch, der zwar Personal auswechselt, aber ansonsten an den eingeschliffenen Mechanismen der gesellschaftlichen Maschine, dieser "ganzen alten Scheiße", nicht zu rütteln vermag. Dazu mußte er ins Innerste der Gesellschaft, ihren Funktionskern, vordringen und ihn möglichst gewissenhaft und subtil analysieren. Das nächste, ebenso große Problem bestand darin, die Komplexität der erkannten Konstellation adäquat darzustellen, auf den Begriff zu bringen; denn nur Menschen, die begreifen, also einen Begriff von dem haben, was sie abschaffen wollen, vermögen das auch.

Schon zu Marx' Lebzeiten (1818–1883) hatte das Werk einen legendären Ruf, Ende des 19. Jahrhunderts galt es als "die Bibel der Arbeiterbewegung". Weitere internationale Verbreitung erlangte es im 20. Jahrhundert, nicht nur in den Staaten des sog. Realsozialismus, die sich einst auf die Theorie von Marx beriefen. Heute ist es, sicher ganz entgegen der Intention des Autors, eine Fundgrube und intellektuelle Spielwiese für Philosophen und Philologen, für Scholastiker und Exegeten, für Akademiker und Feuilletonisten. Der zumeist recht holzschnittartigen Rezeption des Werkes in den politischen Bewegungen wiederum ist eigentümlich, daß beinahe alle divergenten Strömungen des sich darauf begründenden "Marxismus" behaupten, die anderen hätten das alles nicht verstanden – wofür jeweils auch einiges spricht.

Noch immer gibt das Marxsche Werk Anlaß zur Kontroverse – "und das ist auch gut so" (wie man als Dialektiker beipflichten muß). Manch einer schlägt der Wirkungsgeschichte des Buches, dessen Inhalt kaum ein sich berufen fühlender Schwadroneur so recht kennt, sogar gleich umstandslos alle Verfehlungen derer zu, die sich – ob sie "Das Kapital" nun gelesen und verstanden haben oder nicht – im vergangenen Jahrhundert Kommunisten nannten. Andere insistieren darauf, daß gerade auch "sozialistische" Realpolitik und Wirtschaft nicht gefeit ist vor der kategorialen "Kritik alles Bestehenden", die Marx "rücksichtslos" einforderte.

Natürlich ist es absurd, ein mehrbändiges Werk, dem jahrzehntelange Studien vorausgingen, in einer zweistündigen Radiosendung zusammenfassen zu wollen. Wir senden stattdessen einen Vortrag von Lars Quadfasel (gehalten im Juni 2011 in Hamburg), der versucht, das kritische Herangehen – also quasi die Methode und die Spezifik – Marxens herauszuarbeiten.

Abgerundet wird das ganze mit einer Polemik von Manfred Dahlmann ("Marx als Fetisch", 2011), der darlegt, wie man doch den Fetischkritiker positivistisch mißverstehen kann.

 

II)

Eine weitere Folge im Jubiläumsgejubel anläßlich der Erstveröffentlichung von Das Kapital vor 150 Jahren (1867) ... Manche mögen sich vielleicht schon gefragt haben, warum ausgerechnet Marx höchstselbst insistiert hat: "Alles, was ich weiß, ist, daß ich kein Marxist bin"! ... Was hat es damit auf sich?

Licht ins Dunkel bringt ein Vortrag von Joachim Bruhn (2012 in Heidelberg):
"Der Anfang des 'Kapital' und das Ende des Kapitalismus. Warum Marxisten nicht lesen können"
Bruhn holt wie immer weitestmöglich - philosophisch - aus, um maximale - kritische - Schlagkraft zu entfalten und dem Kultus der Arbeit, des Werts, des Staates den Garaus zu machen.

"Wer nicht polemisch schreibt, handelt im Angesicht des Kapitals unsachlich."
(J. Bruhn)

Die Marxisten aller Fraktionen haben sich darauf versteift, Das Kapital als alternatives Handbuch der Volkswirtschaftslehre lesen zu wollen und sodann zu ihrem höchst eigenem Nutzen zu bewerben. Am allerliebsten diskutieren sie die Frage, die ihnen die FAZ pünktlich zu Beginn der neuesten Krise vorgelegt hat: "Hat Marx doch recht?" Wenn sie derart nachgefragt werden, dann sind sie alle in ihrem Element: dem Rechthaben über die gesellschaftliche Organisation des größtmöglichen Unglücks der größtmöglichen Zahl, und das heißt: dem Wahrsagen einer Vergesellschaftung, die doch an sich die Widervernunft schlechthin darstellt.

"Bei Marx hingegen enthalten die Tatsachen ihre eigene Wertung gleich schon selbst."
(J. Bruhn)

Seit Kautsky und Altvater, seit Lenin und Heinrich gefallen sich die Marxisten als gemeinnützige Interessenvertreter, gar als Avantgarde einer ominösen "Arbeiterklasse", wofür sie gerne, als kleine Aufwandsentschädigung, einen gewissen politischen, v.a. aber akademischen Mehrwert einstreichen und sich auf Veranstaltungen und Kongressen spreizen. Sie bevölkern die ideologischen Staatsapparate, gerne auch auf Almosen der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Und sie tun dies, indem sie - was von Engels vielleicht noch als müdes Witzchen gemeint war, als er den Proletariern Das Kapital als die "Bibel der Arbeiterklasse" verkaufen wollte - als erstes den Untertitel des Marxschen Buches totschlagen, der ja die "Kritik der politischen Ökonomie" ankündigt. So beugen sie sich über Das Kapital wie die Scholastiker über die Bibel, bewerfen sich mit Zitaten und haben überhaupt ihr grausiges Spaßvergnügen daran, die von Marx intendierte sozialrevolutionäre Kritik zur akademischen Theorie, zur "Wissenschaft vom Wert" (M. Heinrich), zu verharmlosen.

"Die philologische Akribie der Erbsenzähler verdaut das subversive Interesse und gebiert noch nicht einmal Scholastik, sondern PowerPoint-Folien."
(J. Bruhn)

 

III)

Spätestens Mitte des 19. Jahrhunderts wird unübersehbar, daß die sich entwickelnde bürgerliche Gesellschaft mit massenhaftem sozialen Elend einhergeht, sowie mit Krisen, die wie Naturkatastrophen über die Menschen hereinbrechen. In einer – bis heute eigentlich – ideologisch unübersichtlichen Gemengelage entschließen sich viele Geister: Literaten und Künstler, Anarchisten und Sozialisten, Romantiker und Reaktionäre, dem unverstandenen Treiben nach Möglichkeit ein Ende zu bereiten, gleichzeitig werden die Staaten Europas von einer Welle des Aufbegehrens erschüttert.

Nach dem Scheitern aller dieser Sozialrevolten konsolidiert sich der Kapitalismus zusehends, sodaß Historiker rückblickend vom "Age of Capital: 1848-1875" (E.J. Hobsbawm) sprechen. Während sich nun der Forscher (1818-1883) aufmacht, der Sache auf den Grund zu gehen, ergeht sich der Musicus (1813-1883) in kulturalistischer Mythenbildung, deren Zentrum eine perfide Personifikation des Übels ausmacht – nichts anderes ist der Antisemitismus.

Gerhard Scheit beleuchtet in seinem Vortrag insbesondere, in welchen musikalischen Mitteln der Mythos der unverstandenen Gesellschaft seinen Ausdruck findet, der dann im 20. Jahrhundert jene fatale Wirkmächtigkeit im Wüten des Holocaust entfalten wird. Dem Ring des Nibelungen von Richard Wagner (1876) wird Das Kapital von Karl Marx (1867) konfrontiert, ein analytisch-kritisches Werk, das das Bedürfnis nach moralisch personalisierender Welterklärung dezidiert nicht bedient.

Am nicht nachlassenden Kult um den Staatsmusikanten aus Bayreuth läßt sich indes ablesen, wie es mit der allseits beteuerten "Aufarbeitung" und Kritik des Judenhasses tatsächlich steht.

 

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Sendetermin
Samstag, 5. Mai 2018 - 23:59 bis Sonntag, 6. Mai 2018 - 6:00
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