Ein Werk mit Wirkung
Man kommt ja, mit mürrischem Gesicht, aus dem Feiern gar nicht mehr heraus ... Anno 2017 jährt sich nicht nur zum 100. Mal die russische Oktoberrevolution, sondern auch zum 150. Mal das Erscheinen eines höchst wirkungsmächtigen Buches, nämlich des ersten Bandes von Karl Marx' "Das Kapital".
1867 erscheint in London sein berühmtes Hauptwerk, das im Untertitel beansprucht, eine "Kritik der politischen Ökonomie" zu leisten ... 1917 geschieht der historische Anlauf, diese Kritik praktisch werden zu lassen ... 1967 riecht es weltweit schon wieder nach Revolution, nicht zufällig erscheint im selben Jahr mit "Die Gesellschaft des Spektakels" ein Traktat, das wohl ein würdiger Nachfolger des Marx'schen Manifests genannt werden kann ... 2017 sieht die Welt ziemlich trostlos aus, und das auf technisch höchstem Niveau.
Obwohl Marx entschiedener Kritiker aller Religion war, sich gar als Wissenschaftler begriff, gilt sein kapitales Werk unter Spöttern als religiös verehrte Schrift – was nicht nur in der massenhaften weltweiten Verbreitung des Buches begründet liegt, sondern vor allem in seinem Anspruch, die grundlegenden Wirkprinzipien der bestehenden Gesellschaft freigelegt zu haben. Die Ökonomie als Schlüsseldisziplin der bürgerlichen Gesellschaft wird kritisch dechiffriert, man mag das Philosophie nennen. "Das Kapital" ist eines der ersten Modelle für Gesellschaftskritik überhaupt, oder genauer: für Ideologiekritik, denn das Handeln der Menschen läßt sich spätestens seit der Aufklärung nicht mehr von ihrem Denken abtrennen. Marx wollte sichergehen, daß nach einer politischen Revolution auch wirklich eine Umwälzung der Gesellschaft gelingen kann – und nicht bloß ein Umsturzversuch, der zwar Personal auswechselt, aber ansonsten an den eingeschliffenen Mechanismen der gesellschaftlichen Maschine, dieser "ganzen alten Scheiße", nicht zu rütteln vermag. Dazu mußte er ins Innerste der Gesellschaft, ihren Funktionskern, vordringen und ihn möglichst gewissenhaft und subtil analysieren. Das nächste, ebenso große Problem bestand darin, die Komplexität der erkannten Konstellation adäquat darzustellen, auf den Begriff zu bringen; denn nur Menschen, die begreifen, also einen Begriff von dem haben, was sie abschaffen wollen, vermögen das auch.
Schon zu Marx' Lebzeiten (1818–1883) hatte das Werk einen legendären Ruf, Ende des 19. Jahrhunderts galt es als "die Bibel der Arbeiterbewegung". Weitere internationale Verbreitung erlangte es im 20. Jahrhundert, nicht nur in den Staaten des sog. Realsozialismus, die sich einst auf die Theorie von Marx beriefen. Heute ist es, sicher ganz entgegen der Intention des Autors, eine Fundgrube und intellektuelle Spielwiese für Philosophen und Philologen, für Scholastiker und Exegeten, für Akademiker und Feuilletonisten. Der zumeist recht holzschnittartigen Rezeption des Werkes in den politischen Bewegungen wiederum ist eigentümlich, daß beinahe alle divergenten Strömungen des sich darauf begründenden "Marxismus" behaupten, die anderen hätten das alles nicht verstanden – wofür jeweils auch einiges spricht.
Noch immer gibt das Marxsche Werk Anlaß zur Kontroverse – "und das ist auch gut so" (wie man als Dialektiker beipflichten muß). Manch einer schlägt der Wirkungsgeschichte des Buches, dessen Inhalt kaum ein sich berufen fühlender Schwadroneur so recht kennt, sogar gleich umstandslos alle Verfehlungen derer zu, die sich – ob sie "Das Kapital" nun gelesen und verstanden haben oder nicht – im vergangenen Jahrhundert Kommunisten nannten. Andere insistieren darauf, daß gerade auch "sozialistische" Realpolitik und Wirtschaft nicht gefeit ist vor der kategorialen "Kritik alles Bestehenden", die Marx "rücksichtslos" einforderte.
Natürlich ist es absurd, ein mehrbändiges Werk, dem jahrzehntelange Studien vorausgingen, in einer zweistündigen Radiosendung zusammenfassen zu wollen. Wir senden stattdessen einen Vortrag² von Lars Quadfasel, der versucht, das kritische Herangehen – also quasi die Methode und die Spezifik – Marxens herauszuarbeiten.
Abgerundet wird das ganze mit einer Polemik³ von Manfred Dahlmann, der darlegt, wie man doch den Fetischkritiker positivistisch mißverstehen kann.
²) "Allein schon: Kapital" (gehalten im Juni 2011 in Hamburg)
³) "Marx als Fetisch" (2011)
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