Affektierte Öffentlichkeit
Kommode Selbsttäuschungen, pirouettenhafte Stimmungsumschwünge
ein Kommentar
Das Jahr 2016 fängt ja gut an – selten war die Fassadenhaftigkeit der öffentlichen Meinung greifbarer als heute, Symptom einer allgemeinen und zwar tiefgreifenden Krise der Gesellschaft. Das Auseinanderdriften öffentlicher und „veröffentlichter Meinung“ war eigentlich – hierzulande – immer eine Trumpfkarte der Rechten, insofern die veröffentlichte Meinung, verzweifelte Erbin der Reeducation, tatsächlich noch zivilisatorische Standards oder journalistische Sorgfalt aufrecht erhielt, auf die der heimische Stammtisch seit jeher geschissen hat.
Man rieb sich im Sommer doch sehr die Augen: Auf einmal, durch große Flüchtlingsbewegungen, war das ganze Land toll, in allgemeine volkspädagogische Bürgermeinungsmobilisierung versetzt, als gäbe es keine anderen Themen mehr. Eine Hysterie nicht nur der konservativen Abendlandsverteidiger, sondern auch der multikulturell verblendeten Morgenlandsfreunde.
Offensichtlich reflektiert die assoziative Fühlnormalität, die „Fremde“ wie durchs Naturgesetz mit Moslems identifiziert (die sie ja hier aufgrund geopolitischer Gegebenheiten auch ganz überwiegend sind), sich gar nicht mehr selbst. Ich wage die Behauptung, daß sich die Herzlichkeit der primär sich selbst feiernden „Willkommenskultur“ in Grenzen gehalten hätte, wenn eine Million säkularer, sagen wir: aufgeklärt-linksliberaler Chinesen „bei uns“ angeklopft hätte. Die hätte man sicher nicht so freundlich-paternalistisch aufgenommen wie die doch als kulturell kalkulierbar einzustufenden Araber samt ihren patriarchal strukturierten Familienbünden. Vielleicht erinnert sich ja noch jemand daran, daß man in den sechziger Jahren dazu überging, als „Gastarbeiter“ lieber Türken als Italiener anzuwerben, hatte sich „der Italiener“ doch nicht selten als streikfreudig und gewerkschaftlich organisierbar erwiesen, womöglich kommunistisch sympathisierend; der gottesfürchtige Moslem hingegen galt als dankbar, pflegeleicht, anspruchslos und marxistischen Ideen abhold, und auch am billigsten waren natürlich Analphabeten.
Am merkwürdigsten aber ist eine gewisse Diskrepanz in der „öffentlichen Wahrnehmung“, soweit es eine solche überhaupt noch gibt und sie nicht bloß in der selbstreferentiell zirkulierenden Medienwelt simuliert wird;1 die Diskrepanz nämlich zwischen der relativen Gelassenheit, mit der seit Herbst 2008 die kolossale Finanzkrise beäugt und beklommen belauert wurde, und der singulären Hysterie, die seit Sommer 2015 die Flüchtlingsbewegungen in der deutschen Öffentlichkeit auslösen.
Nun ja, mag man einwenden, „das Leben“ habe sich durch die Weltwirtschaftskrise in den Jahren 2008ff. nicht nennenswert verändert – der eine oder andere Opel- oder Schießer-, die eine oder andere Karstadt- oder Schlecker-Beschäftigte mag arbeitslos geworden sein. Aber diesen nicht enden wollenden Flüchtlingsstrom, den man, bevorzugt in Bildern von sich wie Leberwurst zäh bewegenden Massen, im Fernsehen präsentiert bekommt, und dann diese Zahlen, Zahlen, Zahlen ... Eine Million binnen Jahresfrist wurden kurzfristig prognostiziert – und kamen dann auch; unglaublich, wo kommen wir denn da hin? Starke Worte vom „Staatsversagen“ und „Kontrollverlust“ machten die Runde, noch patriotischer Gesinnte polterten gleich von einem „Ansturm“, einer „Invasion“, „Schwemme“ oder „Flut“, wie in ihren guten alten Zeiten nach 1990.
Ob real oder nicht, jeder mag konstatieren oder sich einreden, er sähe nun tatächlich mehr „fremd aussehende“ Menschen an Straßenecken und in Supermärkten als noch vor einem Jahr. Was aber ein wenn auch plötzlicher Bevölkerungsanstieg um ca. ein Prozent tatsächlich ausmacht, kann sich jeder nüchtern denkende Mensch unschwer vorstellen: nicht viel. Nur vermeintlich elegant wird immer öfter formuliert, daß doch Rücksicht zu nehmen sei auf „die Belastbarkeit der Bevölkerung“, gemeint ist allerdings Rücksicht auf die rassistische Willkür der Bevölkerung, Willkür, mit diesen Menschen nichts zu tun haben zu wollen, welch legitimes Argument. Die bisher weitgehend von Unbill verschont gebliebene Gesellschaft der deutschen Krisengewinnler war sich einig: Das „Flüchtlingsproblem“, gar die „Flüchtlingskrise“ sei die größere, ja die größte gesellschaftspolitische, nein: nationale Herausforderung in Deutschland seit 1945.
Doch die objektiven Zahlen sprechen eine andere Sprache: ein Prozent Bevölkerungszuwachs, auch mittelloser Menschen,2 das soll ein paar Milliarden Euro kosten. Wie bitte? So viel deutsches Geld? Da schäumen die Volksempfinder, Parolen von „Gutmenschentum“ und „Volksverrätern“ machen die Runde. Dabei sind ein paar Milliarden tatsächlich: Peanuts aus der Portokasse! Verglichen nämlich mit den astronomischen und eher unvorstellbaren zwölfstelligen Beträgen, von denen 2008 die Rede war, um den wankenden Finanzunterbau3 in Deutschland kurzerhand zu stabilisieren und zu pampern, als das faktische Fundament des gesellschaftlichen, sprich: kapitalistischen Ganzen einzustürzen drohte. Zahlenmäßig übersteigt der fiskalisch-finanzielle Aufwand zur Bewältigung der Wirtschaftskrise daher den der „Flüchtlingskrise“ um das Hundertfache. Und ausgerechnet dieses „Flüchtlingsproblem“ soll die größte Herausforderung Deutschlands, ja Europas sein? Das klingt eher wie Mobilmachungs-Propaganda. Es soll ja auch möglichst billig werden, dazu bedarf es möglichst vieler ehrenamtlich-zivilgesellschaftlicher Bürgerhelferlein.
Ausgerechnet die „Flüchtlingskrise“ soll die größte Herausforderung Deutschlands, ja Europas sein? Naja, die Wirtschaftskrise, vulgo Finanz- oder Bankenkrise, das ist ja so etwas abstrakes, das verstehen wir ja gar nicht so recht. Da kümmern sich dann so Technokraten vom Schlage eines Peer Steinbrück („Wir haben das im Griff“, „die Gelder der deutschen Sparer sind sicher“) drum, denen man auch bereitwillig und autoritätsgläubig das Feld überläßt. Dann fällt es auch nicht so schwer, in einer Konstellation von „Kalkül und Wahn, Vertrauen und Gewalt“ (J. Bruhn) die Ruhe zu bewahren, obwohl sich gerade fiskalisch-numerisch etwas durchaus vergleichbares abspielt wie schon nach dem Oktober 1929 (mit den bekannten Folgen). Aber wie gesagt ist das doch so abstrakt, das verstehen wir nicht so recht, wir „spüren“ eher, daß es verhängnisvoll werden könnte, aber so genau möchten wir das gar nicht wissen. Ganz konkret sind aber diese vielen Leute, die jetzt „zu uns“ kommen, wie es im Abgeordnetensprech einhellig von ganz links bis ganz rechts zu vernehmen ist. Und wieder heißt es, nicht mehr steinbrückisch, sondern schon sprichwörtlich-merkelisch, „Wir schaffen das!“ Noch vor wenigen Jahrzehnten hat man sich über gleichlautende Parolen lustig gemacht, wenn sie zur Anfachung sozialistischen Arbeitseifers auf roten Bannern in DDR-Betrieben prangten.
Man mag die lebend dem syrischen Bürgerkrieg entronnenen Flüchtlinge in neuester pseudokritischer Sprachregelung „Geflüchtete“ nennen oder sie in rechter Diktion als „Heimatvertriebene“ heroisieren (seltsamerweise geschah dies noch nicht, wohl weil es keine Deutschen sind), so richtig funktionieren die Klischees nicht mehr. „Die“ sehen ja aus wie wir, hippe Haarschnitte, modische Designerbärte, bunte Klamotten, wohlgenährt, die neuesten Smartphones, und dann können die sogar noch lächeln – das sind doch keine Menschen in Not! denkt es in einem, bevor man sich klarmacht, daß diese Menschen eine zumeist mehrwöchige Odyssee als prekäres Transportgut hinter sich haben, nun nicht selten beengt in kalten Zweckunterkünften hausen – und etliche die Flucht, v.a. die übers Mittelmeer, nicht überleben.
Spätestens die „Vorkommnisse in Köln“ Silvester 2015 haben die Betroffenheit, sollte sie sich überhaupt flächendeckend eingestellt haben, wie per Kippschalter abgestellt; und alle Scham. Auf einmal sind, wie für das rechte Milieu, die vielen Menschen wieder nur noch „Problem“ und Verfahrensmasse, nach wie vor herrscht allgemeiner Affekt und eine zunehmende Gereiztheit. Der öffentlichen, sprich veröffentlichten Meinung fiel es am leichtesten, wieder zum Normalmodus zurückzukehren und das selbstgefällige Zelebrieren von Toleranz und Humanität, das ja auch schon ein halbes Jahr anhielt (normale Themen und Hypes sind nach ein paar Wochen „durch“, wie jeder Journalist weiß), endlich zu beenden. Schnell vergessen die Bilder der in einem stehengelassenen Kühl-Lkw verendeten oder erstickten zig Menschen, oder die an den Meeresstrand geschwemmten Leichen von Ertrunkenen, womöglich Kindern. Endlich durfte der Fremde mal wieder eindeutig als Kanaille vorgeführt werden.
Daß derartige Übergriffe wie in Köln möglich waren, wirkt, zumindest was den einhelligen Medien- und Volksaufschrei betrifft, geradezu inszeniert,4 obwohl ein jeder weiß, daß es zu solcherlei eben keiner Inszenierung bedarf. Die Volksseele ist längst wieder monolithischer, als sie es in noch so pluralistischen Podiumsdiskussionen zugestehen mag, da mußte das adenauerisierende Wort „Sittenstrolch“ gar nicht mehr fallen.
Putzig aber, wie ausgerechnet jene, gegen die bis in jüngste Vergangenheit doch die Bürgerrechte von Frauen, Atheisten und Homosexuellen etwa durchgesetzt werden mußten, wie ausgerechnet sie nun den Zuwanderern „unsere Spielregeln“ entgegenhalten. Die universellen Menschenrechte, zuerst im Westen nach der französischen bzw. amerikanischen Revolution proklamiert und in Deutschland bis 1945 kaum angekommen, nennen diese Patrioten also „unsere deutschen Werte“ oder, noch kindischer, „unsere Spielregeln hier“. Gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen sind für sie immer nur Kulturkampf und Normativitätskrampf. Natürlich muß chauvinistischen Muselmännern beigebracht werden, daß sie nicht mehr wert sind als ihre Frauen und Töchter, aber eben nicht nur „hier“, sondern überall in der Welt. Das aber ist den bornierten Kulturalisten mit ihrem nationalen, höchstens noch europäischen Horizont egal.
Noch irrer aber ist, daß es wahrscheinlich eben jene Massen von Moslems, die das Bild des „Ausländers“ in Deutschland, ja in Europa, fast ausnahmslos prägen, sind, die letzten Endes die reaktionären familien- und gesellschaftspolitischen Normen, für die eigentlich AfD und Pegida stehen, qua Milieu vor dem Untergang bewahren werden. Anders und noch schöner gesagt im Futur zwei: Am Ende werden es konservative Moslems gewesen sein, die eigentlich längst überholt geglaubten rückwärtsgewandten Vorstellungen zur Durchsetzung verholfen haben werden. Ironie der Geschichte und geistig-moralische Wende der dritten Art. Vom roten Mars aus betrachtet muß daher die Konfrontation deutschvölkisch und moslemisch Bornierter wirklich komisch erscheinen.
Fußnoten:
1Man muß das nicht „Lügenpresse“ nennen – die Äquivokation zu „Judenpresse“ ist allzu offensichtlich, und auch, die es rufen, scheinen diesbezüglich eher einschlägig gepolt zu sein –, aber, daß die Medien eben keine repräsentative oder Vorreiterposition einnehmen, sondern vielmehr eine Alibifunktion, da sie ganz allein das selbstgefällige Selbstbild dieser Gesellschaft pinseln, zeigt sich nirgends deutlicher als bei der vielbeschworenen „Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit“. So geläutert ist man, daß man – anders z.B. als im Ausland – die Lektionen der jeweils jüngsten v.a. filmischen Machwerke dahingehend gelernt hat, daß an allem „die Nazis“ (leicht darzustellen als einzelne filmische Schurken) Schuld seien und nicht die Deutschen, die jenen zunächst widerstandslos das Feld überließen, bevor sie in vollendeter Kampf- und Volksgemeinschaft allesamt welche wurden.
2Zumal doch überall zurecht angemerkt wird, daß diese gar nicht durchweg Asyl-, also Einbürgerungsfälle seien, sondern im Gros durchaus eher kurzfristige Hilfe suchende „Flüchtlinge“ im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention. Doch auch eine solche Klarstellung vermag natürlich hysterische Patrioten nicht zu beruhigen. Krassen Stolzdeutschen ist die Unterscheidung sowieso egal („Ausländer ist Ausländer“), sie befürworten vermutlich ein Ausscheren des souveränen deutschen Staates aus dem Genfer Abkommen, wie schon 1933 ein Ausscheiden aus dem Völkerbund, der damaligen UNO.
3integraler Bestandteil der Kapitalakkumulation, den Vulgärmarxisten immer noch dogmatisch als „Finanzüberbau“ verniedlichen
4seit Rostock-Lichtenhagen weiß man, was Polizei und Innenpolitik an Kalkül und Niedertracht zuzutrauen ist