Der Staatsterror des Stalinismus
Die ausbleibende Beschäftigung mit dem sogenannten Realsozialismus heute steht in keinem Verhältnis zu seiner einstigen Wirkmächtigkeit, sowohl territorial wie auch zeitlich. Die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts wäre ohne die russische Oktoberrevolution - und die auf sie folgende Etablierung des ersten "kommunistischen" Experiments - völlig anders verlaufen, als wir sie kennen.
Angesichts der (von Freunden wie Feinden gleichermaßen) verdrängten Aufarbeitung der sowjetischen Erfahrungen stellen sich Fragen:
- Wie konnte eine "Ideologie", über die man heute - als bürgerlicher Antikommunist wie auch als sich "undogmatisch" gerierender Linker - so weit hinaus zu sein meint, über längere Zeit derart wirkmächtig werden, ja zur Weltmacht aufsteigen?
- Wie konnte sich die zur Bewegung gewordene Idee der universellen Befreiung der Menschheit in einen ausufernden Polizeistaat verwandeln?
- Was hat die groteske Realität des "Sozialismus in einem Lande" überhaupt mit Sozialismus bzw. Kommunismus zu tun?
- Was passiert, wenn Staatsräson sich aller Hemmungen entledigt?
- Warum konnten die negativen Auswirkungen des mißlingenden Experiments die positiv deklarierten Ziele um ein Vielfaches überwiegen?
- Wie ist infolge dessen zu erklären, daß "der real existierende Sozialismus", obschon bis an die Zähne bewaffnet und somit eine politische Weltmacht, schließlich in einer unwirklichen Geste, beinahe klammheimlich von der Bühne der Geschichte abgetreten ist, ohne daß dieses verschämte Implodieren auf nennenswerten Widerstand gestoßen wäre?
Die Antwort auf manche dieser Fragen liegt vielleicht im Kulminationspunkt der wechselvollen Geschichte der Sowjetmacht, in der zutiefst autoritären Ära der als Stalinismus bekannt gewordenen Staats- und Gesellschaftsformation; und hier konkret in der - noch immer weithin unverstandenen - Episode der "großen Säuberungen", des Großen Terrors, der Jeschowtschina, 1936 bis 1938: Schauprozesse, Massenerschießungen, Gulag. Diese Gewaltherrschaft unterschied sich allerdings von faschistischen Diktaturen grundlegend darin, daß ihr Furor nicht nur vordefinierte Opfergruppen treffen konnte, sondern prinzipiell alle - bis hin zu den Tätern selbst.
In diesen Abgrund muß schauen, wer die Eigentümlichkeit des sowjetischen Staatsapparats - auch über die Stalin-Ära hinaus - verstehen will. Eine Agonie, von der sich die UdSSR und auch die russische Gesellschaft heute, ja sogar die weltweite Reputation des Kommunismus, auf absehbare Zeit nicht mehr erholen sollten; allem Tauwetter und Glasnost zum Trotz.
Ein Vortrag von Christoph Jünke, der 2015 im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Kommunismus - Vergangenheit und Zukunft einer beschädigten Idee" in Dresden referierte:
"Wer vom Kommunismus reden will, darf vom Stalinismus nicht schweigen. Den Stalinismus zu thematisieren, heißt vor allem über den Großen Terror der 1930er Jahre zu reflektieren: Welche Rolle spielte der Terror in der Entstehung und Stabilisierung des sozialistischen Systems sowjetischer Prägung, war er episodischer oder systemischer Natur?"