Wagner und Marx – Staatsmusikant und Staatskritiker
Spätestens Mitte des 19. Jahrhunderts wird unübersehbar, daß die sich entwickelnde bürgerliche Gesellschaft mit massenhaftem sozialen Elend einhergeht, sowie mit Krisen, die wie Naturkatastrophen über die Menschen hereinbrechen. In einer – bis heute eigentlich – ideologisch unübersichtlichen Gemengelage entschließen sich viele Geister: Literaten und Künstler, Anarchisten und Sozialisten, Romantiker und Reaktionäre, dem unverstandenen Treiben nach Möglichkeit ein Ende zu bereiten, gleichzeitig werden die Staaten Europas von einer Welle des Aufbegehrens erschüttert.
Nach dem Scheitern aller dieser Sozialrevolten konsolidiert sich der Kapitalismus zusehends, sodaß Historiker rückblickend vom "Age of Capital: 1848-1875" (E.J. Hobsbawm) sprechen. Während sich nun der Forscher (1818-1883) aufmacht, der Sache auf den Grund zu gehen, ergeht sich der Musicus (1813-1883) in kulturalistischer Mythenbildung, deren Zentrum eine perfide Personifikation des Übels ausmacht – nichts anderes ist der Antisemitismus.
Gerhard Scheit beleuchtet in seinem Vortrag insbesondere, in welchen musikalischen Mitteln der Mythos der unverstandenen Gesellschaft seinen Ausdruck findet, der dann im 20. Jahrhundert jene fatale Wirkmächtigkeit im Wüten des Holocaust entfalten wird. Dem Ring des Nibelungen von Richard Wagner (1876) wird Das Kapital von Karl Marx (1867) konfrontiert, ein analytisch-kritisches Werk, das das Bedürfnis nach moralisch personalisierender Welterklärung dezidiert nicht bedient.
Am nicht nachlassenden Kult um den Staatsmusikanten aus Bayreuth läßt sich indes ablesen, wie es mit der allseits beteuerten "Aufarbeitung" und Kritik des Judenhasses tatsächlich steht.