Die Urszene. Chile 1973
Generationen von Menschen kennen nicht nur die schöne Formel von "Demokratie und Marktwirtschaft", sondern haben sie sich regelrecht zueigen gemacht. Daß dieses Narrativ so nicht stimmt, läßt sich am chilenischen Beispiel studieren. Im September 1973 putschte sich, ganz ähnlich wie in Spanien 1936, eine Militärjunta an die Macht. Hier sind auf einmal die gewohnten Rollen vertauscht, die heute so gern als Klischee gezeichnet werden: Eine sozialistische Regierung, die eine am Wohlergehen der Bevölkerung orientierte Planwirtschaft etablieren wollte, war demokratisch legitimiert, nämlich gewählt gewesen. Die Militärdiktatur trat an, um einen rücksichtslosen und dogmatischen Marktradikalismus zu implementieren. Diese Doktrin und Ideologie, offenbar nur mit massiver staatlicher Gewalt durchzusetzen, begann dann in den achtziger Jahren (und noch beschleunigt nach 1989) auch in den westlichen Gesellschaften die Politik nach ihrem Bild zu formen: neoliberaler Sozialabbau.
Was sich also in den Industrieländern durch langsame und schrittweise ideologische Gewöhnung vollziehen sollte, brach sich in der Peripherie der Dritten Welt mit blanker Gewalt bahn: Daß der Kapitalismus keineswegs der beste Freund der Demokratie ist, sondern diese Partnerschaft höchstens als Zweckbündnis eingeht. Das läßt sich im übrigen an vielen politischen Zäsuren des Kalten Krieges (insbesondere in Südamerika) studieren, aber kaum jemals so drastisch wie in Chile 1973.
Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, mußte dem demokratischen Sozialismus der Garaus gemacht werden. Die Beziehung zwischen "Demokratie" und "Sozialismus" mußte um jeden Preis als widernatürlich, gefährlich und spinnert etikettiert und ins Reich der Mythen verfrachtet werden, es galt – nicht zum erstenmal – einen Präzedenzfall zu verhindern. Wenn sozial Depravierte ("die Armen") jammern, ist das Normalzustand und nicht weiter der Rede wert, solange sich die Frustration nicht zur Revolution hochschaukelt; das staatliche Interesse wird auch gerne gegen sie durchgesetzt. Jammern aber Unternehmer ("Leistungsträger"), entsteht unverzüglicher Handlungsbedarf und allgemeiner Staatsnotstand. Genau das war im Vorfeld des Putsches der Fall, jeder kennt den Sound.
Die Rhetorik von "Recht und Ordnung wieder herstellen" kommt dabei so sicher wie das Amen in der Kirche. Derselbe Staat, der sich damit im Nimbus des Allgemeinwohls gefällt, dient sich im Normalbetrieb durchaus den kapitalistischen Partialinteressen an und es wird "durchregiert". Privatisierung heißt das harmlos anmutende Schlagwort, mit dem der Erosion zunächst der Solidarität, dann der Öffentlichkeit und schließlich des Urteilsvermögens der Weg bereitet wird.
Daß die Diktatur von General Pinochet, immerhin eines der zählebigsten Militärregimes des 20. Jahrhunderts, auf schierer Brutalität beruhte, war seit jeher bekannt. Welchen gesellschaftspolitischen Zwecken der Terror diente, blieb dabei aber allzu oft im Nebulösen. Kein Wunder, arrangierte sich doch auch Westeuropa wie selbstverständlich mit der Junta, die Interessenpolitik wurde bloß hier und da mit Krokodilstränen beträufelt.
Der Titel der heutigen Sendung verweist auf psychoanalytisches Vokabular: "Urszene" bezeichnet die – reale oder imaginierte – Beobachtung der elterlichen Kopulation durch das Kind, das darüber traumatisiert wird. Wer aber waren die Sexualpartner beim Putsch in Chile 1973? Hier kommen nur äußerste Gewaltaffinität und ein sogenannter Liberalismus infrage – sie fanden in einem diktatorischen Wirtschaftsliberalismus ("Neoliberalismus") zueinander. In guter psychoanalytischer Tradition wird die Sendung das Thema, nein: den Komplex durcharbeiten. Dabei geht es, wie so oft, nicht ohne produktive Redundanzen ab. Gleichzeitig wird bei der Beschäftigung mit der Konterrevolution vor 50 Jahren klar, dass es damals um Interessen und nicht um Identitäten ging.