Thomas Bernhard: Alte Meister
"Die höchste Lust haben wir ja an den Fragmenten. Wie wir am Leben ja auch dann die höchste Lust empfinden, wenn wir es als Fragment betrachten. Und wie grauenhaft ist uns das Ganze und ist uns im Grunde das Fertige, Vollkommene. Erst wenn wir das Glück haben, ein Ganzes, ein Fertiges, ja ein Vollendetes zum Fragment zu machen, wenn wir daran gehen, es zu lesen, haben wir den Hoch-, ja unter Umständen den Höchstgenuß daran. Unser Zeitalter ist als Ganzes ja schon lange Zeit nicht mehr auszuhalten, sagte er. Nur da, wo wir das Fragment sehen, ist es uns erträglich. Das Ganze und das Vollkommene ist uns unerträglich, sagte er. So sind mir im Grunde auch all die Bilder hier im Kunsthistorischen Museum unerträglich, wenn ich ehrlich bin, sind sie mir fürchterlich. Um sie ertragen zu können, suche ich in und an jedem einzelnen einen sogenannten gravierenden Fehler. Eine Vorgangsweise, die bis jetzt immer zum Ziel geführt hat, nämlich aus jedem dieser sogenannten vollendeten Kunstwerke ein Fragment zu machen, sagte er. Das Vollkommene droht uns nicht nur ununterbrochen mit unserer Vernichtung, es vernichtet uns auch. Alles, was hier unter dem Kennwort 'Meisterwerk' an den Wänden hängt, sagte er. Ich gehe davon aus, dass es das Vollkommene, das Ganze gar nicht gibt."
Es liest Markus Boysen.