8. Mai 1945 – Nazideutschland am Ende, Kriegsende in Europa. Niederlage und Befreiung

Termin
Freitag, 8. Mai 2020 - 12:00 bis 18:00

Vor genau 75 Jahren ...

Auf einem ikonischen Bild festgehalten (das immer noch abstrusen Copyrights unterliegt, sonst dürften Sie es hier erblicken), treffen Ende April 1945 an der Elbe Soldaten der Roten Armee und der amerikanischen Streitkräfte mit einem historischen Handschlag aufeinander. In einer – schon wenig später undenkbaren – Koalition haben die Alliierten die faschistischen Achsenmächte niedergerungen. Am 8. Mai 1945 muß das Deutsche Reich bedingungslos kapitulieren ("unconditional surrender"), drei Monate später erst wird das Japanische Kaiserreich folgen. Die Niederlage mußte eine totale sein, nach dem rabiaten und wahnwitzigen Gebaren des Deutschen Reiches auf internationalem Parkett. Nicht nur gab es, wie nach Kriegen üblich, Grenzverschiebungen und die Revision der territorialen Annexionen, sondern das Land wurde komplett besetzt, die deutsche Staatlichkeit hörte de facto auf zu existieren; zumindest politisch wurde der Faschismus zerschlagen. Das diskreditierte Land wurde alsbald geteilt, die republikanische Staatsform, föderale Struktur und demokratische Regierungsform verdankt die deutsche Bevölkerung nicht einer Revolution, sondern dem Sieg ihrer Gegner 1945. Das gibt zu denken. Denn diese Schmach wurde nicht zugefügt, sie ist hausgemacht.
Was jahrelanges moral bombing deutscher Städte nicht erreichen konnte, hatten letztendlich alliierte Bodentruppen unter großen Verlusten leisten müssen: Die Deutschen wenn schon nicht zur Räson, so wenigstens zur militärischen Niederlage zu bringen. Anders war offenbar der nazistische Kampfgeist der Bevölkerung – die Identifikation mit Führer und Vaterland – nicht zu brechen. Diese bald verleugnete, später verdrängte Tatsache lastet seit einem Dreivierteljahrhundert auf allen, die sich gern mit Deutschland identifizieren. Ein psychologisch-moralischer Komplex, der auf absehbare Zeit wie eine offene Wunde am deutschen Selbstbewußtsein würde nagen und untergründig rumoren müssen, wie aufmerksamen Zeitgenossen schon seinerzeit überdeutlich war.
Die antifaschistische Allianz der Siegermächter zerfiel schnell in neuen geopolitischen Konfrontationen, und so auch das hiesige Nationalbewußtsein: Im Osten imaginierte man das gute, werktätige Volk als von einer Clique böser Herrscher unterdrückt ("Hinter dem Faschismus steht das Kapital"), im Westen als von Scharlatanen und Hochstaplern verführt ("Das hat uns der Hitler eingebrockt"), hier machte man gleich weiter im Endkampf gegen den bolschewistischen Erzfeind, nur jetzt ohne Wehrmacht und Holocaust, sondern lieber mit eisernem Schweigen und D-Mark.

"Aufarbeitung der Vergangenheit" – oder ihre Bewältigung?

Umso interessanter zu verfolgen, wie sich diese Niederlage im Massenbewußtsein niederschlägt, welchen Reim es sich auf sie macht. Solange die Generation der Nazitäter noch in der Bundesrepublik flächendeckend in Amt und Würden anzutreffen war, wurde das Thema verdruckst verdrängt, höchstens in unfreiwillig vielsagenden Ausnahmesituationen (Kontrollverlust, Kneipe, Familienkrach) wurde die schmachvolle Niederlage mal zum Thema kurzen Aufstoßens und Auswerfens. Jahrzehntelang war dies – abseits seltener medialer Thematisierungen des Komplexes – der vorherrschende Modus der Nichtauseinandersetzung.
Genau vierzig Jahre nach dieser Niederlage spricht Bundespräsident Weizsäcker (Jahrgang 1920) am 8. Mai 1985 davon, die Niederlage sei eigentlich eine "Befreiung" gewesen. Antifaschisten und Linksliberale feiern, daß endlich auch ein Liberalkonservativer nicht mehr umhin kommt, das Offensichtliche auszusprechen: Daß die Niederlage des Nazi-Reiches ein Segen für die Menschheit war. Aufgeklärte Kommentatoren sehen in Weizsäckers Statement eine Zäsur der politischen Kultur in Deutschland, eine Befreiung auch des Sprechens über "die NS-Zeit". Die jedoch wohlfeil ist, weil sie zu spät kommt: 1985 scheiden Männer und Frauen des Jahrgangs 1920, rein biografisch mit NS-Ideologie präpariert weil aufgewachsen, gerade aus der Arbeitswelt aus. Der diskursive Befreiungsschlag bekommt dadurch einen Beigeschmack von Schattenboxen und Symbolpolitik.

Und längst (spätestens im Kontext der Berliner Republik) birgt die seinerzeit kontroverse und international Aufsehen erregende Rede Weizsäckers auch die Gefahr, einer neuerlichen Lebenslüge des hiesigen Massenbewußtseins Vorschub zu leisten. Denn für die übergroße Mehrheit der Deutschen bedeutete das Kriegsende höchstens insofern eine "Befreiung", als sie nun objektiv in einer freieren Gesellschaft leben konnten. Tatsächlich mußte die Befreiung der letzten überlebenden NS-Opfer gegen den erbitterten Widerstand dieser Deutschen erkämpft werden, war also für sie subjektiv alles andere als eine Befreiung; vielmehr eine empfindliche Niederlage. Anders gesagt: Für sie als Täter war es keine Befreiung, es war eine Befreiung von ihrer Herrschaft. Befreit wurden nicht sie, sondern ihre Opfer.

"Opa war kein Nazi"

War vor dem Weizsäckerschen Paradigmenwechsel (in Verkennung und Verdrängung psychonanalytischer Banalitäten) zwei Generation lang versucht worden, Mord und Totschlag durch Totschweigen unter Kontrolle zu bekommen, so erblühte – angestoßen durch die Fernsehserie "Holocaust" (1979) seit den 80er und 90er Jahren, aber erst seit 2000 forciert – die industrielle Fertigung und verbindliche Etablierung eines filmischen, melodramatisch konfektionierten Narrativs, bei dem "unsere Schuld", das Leid "der anderen" und "unser Leid" schamlos in ein pseudokritisches, mittlerweile politisch genehmes Verhältnis gesetzt werden. "Unsere Mütter, unsere Väter", arme Würstchen und Opportunisten, die Alten und die Jugend, stille Mitläufer und fiese Nazis, "die große Flucht" und "der verdammte Krieg", Kummer und Leid, Lager und Landser, Schmerz und Schande, die Schuld und die Heimat. Alles wird beschaulich, ikonisch, zum Klischee – letztendlich handhabbar. Das Ungeheuerliche der völkischen Massenideologie, ihrer gesellschaftlichen Wirkmächtigkeit, des mörderisch amoklaufenden Bewußtseins verschwindet in durchschaubaren Intrigen identifizierbar einzelner, durchtriebener Dunkelmänner. Nie ist das Barbarische das Normale, immer bekommt es hübsch Namen und Adresse. Wenn woanders Julia frisch verliebt im siebten Himmel frohlockt, Holger schüchtern schmachtet und Katja telefoniert, Stefan eifersüchtig und Andrea enttäuscht ist, so war in diesen Machwerken Inge tüchtig, Horst verwundet, Sarah versteckt, Hans verhetzt, Hedwig einsam, Jakob interniert und Heinrich böse. So einfach war das.
Ergänzend zum abendfüllenden historisch-sentimentalen Filmepos hatte ein Volkspädagoge und Fernsehhistoriker namens Knopp das dokumentarische Format erfunden, es funktionierte wie Was ist was? oder Die Sendung mit der Maus, nur für Erwachsene: Das is'n Nazi. Und warum ist der Nazi? Wegen Versailles. Und Massenarbeitslosigkeit. Und zu wenig Demokratie. Die mit Zeitzeugen gespickten Serien hießen Hitlers Helfer, Hitlers Krieger, Hitlers Kinder, Hitlers Manager, Hitlers Frauen und wurden Quotenrenner, mit dem unmoralischen großen Verführer ließ sich alles erschöpfend erklären. Täter aus Überzeugung wurden zu Opfern von Propaganda. Geschichte wird gemacht, es geht voran. Diese Art von Selbstgespräch, von medialer Farce war ja schließlich Zweck der Übung.

Die große Verführung

Zum gleichen Zweck deutscher Selbstverständigung wurde insbesondere nach der Wiedervereinigung 1990 intensive Forschung über "den Widerstand" betrieben, den christlichen, den proletarischen, den aristokratischen, den militärischen, den kulturellen, den politischen, so daß man vor lauter Skeptikern und stillen Helden in "innerer Emigration" sich die Augen reibend fragen mußte, wer denn all die millionenfachen Greueltaten in den zahllosen unterworfenen Ländern verbrochen hat. Und wes Geistes Kind die mächtige NS-Massenbewegung eigentlich gewesen sein könnte, warum sie in ausnahmslos allen sozialen Schichten tonangebend geblieben war. Die Wahrheit war zu schmerzhaft, zu monströs, zu entlarvend, als daß man sich ihr ungeschönt hätte stellen können. Und so wurde ein Mythos durch einen anderen ersetzt, die Mär von einer unerwünschten Diktatur durch die Lebenslüge der Widerständigkeit. Ohnehin ist "Diktatur" für das Verhältnis der Deutschen zum Nationalsozialismus, für das Verhältnis der Volksgemeinschaft zu Staat, Partei und Führer ein entlastender, beschönigender, exkulpierender und damit verlogener Begriff. Das wissen mittlerweile sogar deutsche Historiker, die in Sachen Bewältigungsweltmeisterschaft nicht zurückstehen wollen.

Auf all dem gilt es zu insistieren in einer längst wieder selbstgefälligen bundesdeutschen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, die – wie empirische Studien belegen – zwar weitgehend über die statistische Faktenlage der NS-Geschichte unterrichtet ist, gleichzeitig aber sich selbst und die eigene Familiengeschichte, die eigene Subjektivität als Deutsche und Staatsbürger weitgehend verklärt und sich für unbefangen hält – und dabei sogar im formaljuristischen Sinne tatsächlich unschuldig ist (und schamlos darauf pocht: "Wir können es nicht mehr hören"). Die sei's ungebrochene, sei's gebrochene Identifikation mit dem deutschen Staat, Rechtsnachfolger des Nazireiches, mit der tüchtigen Sport- und Exportnation sowieso macht den forschen Nachwuchs längst so, wie schon früher: wenn schon nicht bekennend stolz, so doch frisch, fromm, fröhlich und frei.