SPEX r.i.p.

Nachruf und Abgesang

Vom Hörsturz-Sekretariat

Ein Magazin, das zu seinen besten Zeiten – um nicht zu sagen: in der guten alten Zeit – radikale Musiker wie My Bloody Valentine oder Napalm Death auf der Titelseite bewarb, kann kein schlechtes sein; zumal die besagten seinerzeit noch keineswegs jenen Kultstatus innehatten, der ihnen Jahrzehnte später anhaften sollte. An die Entstehung der Zeitschrift um 1980, noch im Kontext der New Wave, erinnerte bis zuletzt der Name, der sich an die zeitgenössische Band X-Ray Spex („Röntgenbrille“) anlehnte.

Zu den Kuriosa in der Geschichte des Blattes gehört, daß einst ein veritabler Salonleninist und späterer FAZ-Feuilletonist wie Dietmar Dath für ein paar Jahre die Spex-Chefredaktion bekleidete. Auf eine kritische Linie hat auch er das Pop-Periodikum nicht zu bringen vermocht – wahrscheinlich hätte dies auch den ökonomischen Ruin bedeutet.
Hellsichtige, Leitartikel-artige Reflexionen darüber, wie es denn sein könne und was es bedeutet, wenn ein Pogromist in Rostock-Lichtenhagen ausgerechnet eine Malcolm-X-Kappe trägt, zählten zwar zu den Lichtblicken der Zeitschrift. Allein aber, einen Markennamen wie SPEX permanent in Großbuchstaben zu schreiben, mag im englischsprachigen Raum gängig sein (wo ja sonst kaum Großbuchstaben im Schriftbild auftauchen), ist – zumal es sich um kein Akronym handelt – hierzulande kaum mehr als ein verzweifelter Versuch, mit optisch-typografischen Mitteln eine Aufmerksamkeit zu erheischen, die offenbar keine hinreichende inhaltliche Grundlage hat.
Und doch stand der Name Spex jahrelang monolithisch für „poplinke“ Diskurse oder auch die sogenannte Hamburger Schule, jener Grübelrock von Blumfeld, Tocotronic und Die Sterne, der seinerzeit – als das neu war – die Rockzeitschriften noch nicht interessierte. Und das war spannend, schließlich war man ja schon 20 und mochte nicht mehr Bravo oder Pop Rocky lesen; BRAVO, deren Markenlogo ebenfalls in aufdringlichen Großbuchstaben prangte.

Um 1995 erwuchs der Spex mit Testcard, einer Essaysammlung in Buchform, ein ungleich radikalerer, aber auch seriöserer Konkurrent: Der Albtraum all jener, denen schon Spex als Inbegriff von Verkopftheit und „poplinker“ Bestrebungen um Diskurshegemonie gegolten hatte. Testcard hatte nicht nur den Anspruch, Fachblatt für Intellektuelle – und nicht nur solche, die es werden wollen (wie die notorische Spex) – zu sein, sondern stieß sich, vor allem in der Person von Martin Büsser (1968–2010), seit Anbeginn von affirmativer Poptheorie ab („Antipop“, „Pop ist eine Pizzaschachtel“). Vor allem beschäftigte man sich hier auch mal eingehend mit ästhetischer Kritik und nicht nur mit Fragen von Gesten und Rezeption. Im direkten Vergleich mit Testcard war Spex in etwa so altbacken und konventionell wie etwa Brecht und Bloch im Vergleich zu den avanciertesten Vertretern der Frankfurter Schule.
Spexige Namen wie Mark Terkessidis, professorale Gestalten wie Dietrich Diederichsen standen für ein cultural-studies-lastiges Herangehen an „Pop-Phänomene“, das mehr und mehr Jargon wurde – und vor allem im Milieu der Design- und Kunstakedemien gut ankam. Ohne bestimmten Artikel schwadronierte man hier über eine Substanz namens Pop, wie Andrea Nahles über Politik oder Bauingenieure über Sand: „Hier muß Politik liefern.“ „So funktioniert Pop auf der Tanzfläche.“ „Erste Wahl beim Fundament ist Sand.“ Doch war Spex nicht nur im Schlechten, sondern auch im Guten die adäquate Repräsentanz für Kunstakedemiker-affine Musik von Sonic Youth etwa, oder von tollen Bands auf Shimmy Disc Records. Wo sonst konnte man über solche Musik lesen?
War Spex in den 1980er Jahren noch ein, wenn nicht der Lichtblick im mediokren Elend des Musikjournalismus, so formte sich das Heft in den 90ern zum Zentralorgan für postmoderne Ideologiebildung und Hipneß in Deutschland. Auch wenn eine Kritik des versteinerten Rock-Habitus um 1990 längst überfällig war – nach 20 Jahren Stadionrock –, so wurde daraus eine kommode Ideologie, ein billiges Klischee geschmiedet. Und das ging so: Pop ist gut (kosmopolitisch, bunt, kommerziell, jung und frisch), Rock ist doof (männlich, chauvinistisch, erdig, abgestanden und ranzig). Allen Ernstes war plötzlich von „Rockismus“ die Rede, und obwohl das bemühte Wort manches trifft, gerann es zum Kampfbegriff der doch so begriffslosen postmodernen und geschmäcklerischen Faselei.
Überhaupt schlug die Kritik am Wahn der Authentizität, wie sie z.B. als Verkaufsargument ins Feld geführt wurde für die siebenundzwanzigste Wiederveröffentlichung unveröffentlichter LepZep- oder Hendrix-Rehearsals („Rockismus“), um in die Feier des Artifiziellen, der Collage und des Remix. Authentisch war eben doof, unauthentisch gut. Die Denkfigur gipfelte dann im postmodernen Diktum vom Tod des Autors, und das paßte gut zur 90er-Jahre-Mode von Techno und „DJ culture“, Musik, die fast ohne subjektive Beigaben wortwörtlich auf dem Tanzboden „funktioniert“, wie man zu sagen nicht davor zurückschreckte.
Von Dialektik keine Spur: Wie schon die Punk-Revolte (gegen Hippies, Progressiv- und Stadionrock) auch 30, 40 Jahre später gegen untote Feindbilder fortlaufend hohldreht und selbst mindestens genauso konservativ und selbstgefällig geworden ist, so ähnlich erging es auch den Pop-Ideologen von Spex. Ressentiment wurde mit Ressentiment bekämpft. Aus der Kritik an nerdiger Überhöhung von Indie und Underground (an der Spex zu besseren Zeiten durchaus Anteil hatte) wurde gegen Ende der 90er Jahre die tobakstarke Behauptung, die Unterscheidung von Mainstream und Untergrund, von Kommerz und Independent, sei hinfällig geworden, sei selber nur noch Marke und warenförmig, ein erbärmliches Dissidenzgebaren, eine korrupte Pose. Ja, es gebe eigentlich überhaupt keinen Mainstream mehr („Mainstream der Minderheiten“), da wir ja in der glückseligen Welt durchgesetzten Pluralismus' leben. War man neulich noch höchstselbst angetreten, Distinktion neu zu buchstabieren im postmodernen Performanzreigen der Codes und Gesten, so denunzierte man nun plötzlich das Distinktionsbedürfnis – das der anderen nämlich.
Mal ließ man die eigene Fahne im Wind wehen, mal bildete man sich ein, der Wind zu sein. Als Zentralorgan war man schließlich zuständig für den neuesten Hype, den letzten Schrei, die jüngste hochnotverbindliche Losung, den in prätentiöser Jugendsprache anempfohlenen „heißen Scheiß“. Überhaupt war Ironie der Modus, in dem alles ging; vor allem auch als Alibi, wenn man sich mal wieder verrannt hatte.

Die Stärke, die Strahlkraft von Spex war immer eher der Schwäche und Langweiligkeit ihrer Konkurrenzprodukte geschuldet. Wem der Rolling Stone zu rockkonservativ-traditionalistisch war, wem MusikExpress zu popelig, wem das Visions zu RATM- und RHCP-affin war, wem die Intro zu billig (sie war kostenlos), wem Metal Hammer, Zillo und Rock Hard ästhetisch zu beschränkt oder gar geschmacklich verwahrlost waren, der griff mit gutem Grund zur Spex. Hier waren immerhin keine offenen Flanken für Pop-Gefährder wie Böhse Onkelz, Rammstein oder Death In June zu finden wie bei den letztgenannten Gazetten.
Auch in England, immerhin das Mutterland der Popkultur, sind in jüngerer Zeit renommierte, ja legendäre Musikmagazine wie der Melody Maker (1926–2000) oder der New Musical Express (NME; seit 1952) dem Ruin anheimgefallen. Eine Entwicklung, die sich auch hier abzeichnete und nun neben dem NME auch das Intro und eben die Spex betrifft: 2018, binnen eines einzigen Jahres, treten sie alle von der Bildfläche ab. Ach ja: Das Dance-Magazin Groove und die Lindenstraße sind nach fast 30 bzw. über 30 Jahren auch am Ende.
Das Sterben etablierter Magazine auf der einen Seite, auf der anderen Seite das Sterben hunderter Fanzines zumeist mit Punk/Indie-Bezug, die – wie auch Schülerzeitungen – seit den 1980ern in kleiner Auflage fotokopiert und auf undergroundigen Konzerten oder in freakigen Plattenläden von Hand verkauft wurden.

An dieser Stelle merkt man, daß man sich kaum noch eine Welt ohne Internet, ohne das vom Publikum mit „content“ vollgekleisterte sogenannte Web 2.0 vorstellen kann. Eine Entwicklung, die ja final in den sogenannten sozialen Netzwerken zu sich gekommen ist. Neue Medien und Hörgewohnheiten, und die neuen Popstars sind nicht länger – wie in den vergangenen 60 Jahren – Musiker, sondern hilflos gestikulierende Bespaßer, Welterklärer und Selbstdarsteller, genannt YouTuber („Influencer“, eine Spielart von Influenza). Nun ja, warum sollte nicht auch ein Selbstermächtigungs-Punkmotto wie D.I.Y. beliebig tief sinken können?
Mit der Etablierung des Internet (Houellebecq: „Dieser Welt mangelt es an allem, nur nicht an Information“) begann also das lange Siechtum der Musikpostillen, letztendlich ihr ökonomischer Niedergang; und im übrigen auch der Autoren-Musiksendungen in Rundfunk und Fernsehen: War anno 2002 der Verlust des Musikfernsehens Viva2 noch verschmerzbar, da man sich hier im kulturellen Milieu eines kommerziellen Privatsenders – und damit stilistisch eher im Genre des Alternative als des Independent – bewegt hatte, so war 2004 der Tod von Rundfunk-DJ John Peel (der seit über 35 Jahren gesendet hatte) ein Schock. Das Ausbleiben seiner so spannenden wie geschmackvollen Radiosendungen in vielen Sendern riß eine monströse Lücke, die sich bis heute durch nichts auffüllen ließ. Die Einstellung der von Klaus Walter moderierten Radiosendung Der Ball ist rund (1984–2008 im Hessischen Rundfunk) folgte nur vier Jahre später.
An die Stelle von Musikjournalismus, von „poplinkem“ Räsonement gar, sind Streamingdienste und die so egalitäre wie inhaltsleere Relationalität des „Anderen Kunden gefiel auch ...“ getreten. Nichts sagt vielleicht so viel über die mediokre Allgegenwart von Mobilgerätenutzung und digitalem Stöbern aus wie die Tatsache, daß sie in Spielfilmen so wenig vorkommt wie Pinkeln und Scheißen.

 

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