Auferstanden aus Ruinen: die SPD, die Hausmannskost, der Wumms und das Momentum
Ein Kommentar
So sehr es bei der Bundestagswahl wesentlich schlimmer hätte kommen können, so beunruhigend ist doch, wie sehr der Personenkult, also das Charisma die politische Auseinandersetzung und Meinungsbildung dominiert. Und das nicht erst seit gestern.
Der verkniffen grienende Armin Laschet konnte die Deutschen letztendlich nicht überzeugen, er tut einem in seiner bisweilen tölpelhaften Art schon fast leid. Aber nur fast, denn die hinter ihm stehenden Parteien CDU und CSU sind in den meisten Aspekten komplett indiskutabel. Bei den Sozialdemokraten ist es genau umgekehrt: Hier wurde die längst im Siechtum begriffene und als chancenlos geltende Partei von dem Heilsbringer Olaf Scholz quasi über Nacht gerettet. Sein Charisma besteht in der betont uncharismatischen, nüchtern technokratischen, bemüht sachlichen Art, sowas gefällt den Deutschen, ein echter Realist „mit Regierungserfahrung“, ein aller visionären Umtriebe unverdächtiger Sozi-Staatsmann, wie schon Helmut Schmidt oder Gustav Noske, ein Mann, der das Tagesgeschäft besorgt. Scholz, das ist durchweg politische Hausmannskost, wie man sie auch von Merkel oder Kretschmann serviert bekommt: Was vor 200 Jahren gottgefällig war und vor 100 Jahren dem deutschen Wesen ein Wohlgefallen, das nennt sich heute marktkonforme Demokratie; nicht völlig ungenießbar, aber eben doch Mangelernährung.
Jahrzehntelang war es so gewesen, daß, wenn die CDU regiert, ein typischer CDU-Mann den Leithammel geben muß; wenn aber – ausnahmsweise – mal die SPD regieren darf, mußte das in aller Regel ein eher rechter Sozialdemokrat sein: Schmidt oder Schröder, und nun Scholz. Ausnahme von diesem ernüchternden Schema war lediglich Merkel, sie rückte die rechtsliberale Union tatsächlich in Richtung Mitte, genau wie die Sozikanzler die linksliberale Partei in Richtung Mitte gerückt haben – und damit in die Bedeutungs- und Gesichtslosigkeit.
Viel ist, seit Jahren schon, gegrübelt, geschrieben und räsoniert worden über die Krise der sogenannten Volksparteien, also jener, die es gewohnt waren, regelmäßig mehr als ein Drittel aller Wählerstimmen einfahren zu können. Das bundesdeutsche Parteiensystem funktionierte jahrzehntelang so ähnlich wie das US-amerikanische: zwei starke konkurrierende Parteien, die man grob als rechtskonservativ und linksliberal einordnen konnte. Diese „Volksparteien“ bildeten sich eine Menge darauf ein, nicht mehr Klientel- oder gar Klassenparteien zu sein (wie noch vor hundert Jahren), vielmehr wolle man das „Allgemeinwohl“ vertreten: ein hehres Ideal, und ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Wie ermüdend strukturkonservativ, ja einfallslos, ängstlich und verklemmt das deutsche Wahlvolk in seinem ideologischen Käfig aber seit jeher ist, hat sich 2021 einmal mehr gezeigt. Erstens: Die weitreichende allgemeine Unzufriedenheit mit „der Politik“ entlädt sich in einer Linkspartei, die die 5%-Hürde fürchten muß, und ungleich stärker in einer Rechtspartei, die locker das doppelte Ergebnis einfährt (und das, obwohl angeblich niemand mit ihr koalieren will). Zweitens: Als ein wesentlicher Aspekt der sozialdemokratischen Misere und Agonie der vergangenen Jahrzehnte wird oft die Einführung des restriktiven ALG-2-Regimes durch die rot-grüne Bundesregierung anno 2004 genannt, jener Sozialabbau, der noch den der Kohl-Ära übertrifft. Wenn diese Missetat, dieser Sündenfall wirklich von der SPD-Stammwählerschaft abgestraft worden sein sollte, dann müßte einzig die Linkspartei im selben Maße erstarkt sein wie die SPD geschrumpft (ist sie doch die einzige nennenswerte Kraft, die die Agenda 2010 strikt abgelehnt hat). Das ist jedoch nicht der Fall, vielmehr haben FDP, Grüne und CDU/CSU, ferner AfD, die enttäuschten SPD-Wähler abgreifen können. Liegt hier ein Logikfehler vor? Nein, hier liegt der strukturkonservative deutsche Wähler vor, lieber nach unten tretend und antikommunistisch imprägniert seit 1933 und nicht unbedingt rational. Drittens: Jenseits der sogenannten Volksparteien existieren mit Linkspartei und FDP zwei politische Kräfte, die recht konsequent und unverblümt Arbeitnehmer- bzw. Arbeitgeberinteressen vertreten. Vor diesem Hintergrund läßt ein Wahlergebnis, das suggeriert, die Bevölkerung bestünde aus doppelt so vielen Unternehmern wie Lohnabhängigen, schon an Verstand und Mündigkeit der Wählerschaft zweifeln.
Lustig ist indes, daß nun, wo „nach 16 Jahren Merkel“ angeblich allseitige Wechselstimmung herrsche, ausgerechnet der blasse Olaf Scholz als Hoffnungsträger gehandelt wird. Denn er steht nun wirklich für alles andere als den Wandel. Während die vom (durchweg reaktionären) Merkel-Überdruß alarmierte CDU eher wieder nach rechts rücken möchte, um Identität und Profil zu beschwören wie zu Kohls Zeiten, steht gerade Scholz für genau das, was die sogenannte Große Koalition die letzten Jahre ohnehin im Schilde geführt hat: technokratische Sach- und Realpolitik bar jeder Vision, die jede wirkliche Neuerung skeptisch ausbremsen und aussitzen wird. Seriosität auf deutsch halt. Statt Neuerungen ist immer nur die Rede von einer Politik der „Erneuerung“ – und was wird „erneuert“? Das Alte, Althergebrachte natürlich. Es wird immer nur auf einen neueren Stand gebracht. Von wegen „den Wandel gewählt“: Scholz war immer ein Verfechter der Agenda 2010, also insbesondere von Hartz IV, entgrenzter Zeitarbeit, Ich-AGs und Gig Economy. Aber Scholz muß nicht fürchten, wie die nun scheidende Kanzlerin mit Frauenhaß und Pegida-Pogromstimmung eingedeckt zu werden. Undenkbar, daß die rechten Wutbürger nun skandieren werden, „Scholz muß weg!“; obwohl er doch in den meisten Belangen für die gleiche Politik steht.
Scholz kann adressatengerecht sprechen, nun ja, ein erfolgreicher Sozialdemokrat zeichnete sich von jeher dadurch aus, daß er „dem Volk aufs Maul schaut“, da ist er ganz Müntefehring, ganz Schröder, ganz Nahles. Für die bildungsferne Wählerschaft sagt er, daß die von ihm favorisierte Politik einen „Wumms“ auslösen oder mit einem „Wumms“ durchgesetzt werden müsse. Nun ja, er wollte auch mal ein „Wir schaffen das“ landen, einen markenzeichen-verdächtigen Spruch, mit dem er auf Jahre noch zitiert wird. Für die Feingeistigen und Besserverdienenden, die Bildungsbürgerlichen, die vermutlich lieber grün oder liberal wählen, sagt er, der einzuleitende Wandel habe bereits „Momentum“ gewonnen. „Momentum“, ein aufgeblasenes Wort, das es im Deutschen so gar nicht gibt. Das Drehmoment ist zwar als Kraft in Rotationsrichtung bekannt, aber das englische momentum heißt auf deutsch schlicht und einfach Impuls, in der Physik also so etwas wie Schwung oder Wucht. Aber hier ging es offenbar eh nur darum, daß sich ein Wort mal besonders klug anhört.
Seine ins Extrem gesteigerte Bedächtigkeit und Ruhe gipfelt in einem regelrechten Flüsterton, den Scholz im Wahlkampf überaus auffällig an den Tag legte, als wolle er mit Weisheit (wenn schon nicht mit Intellekt oder Urteilskraft) beeindrucken und punkten: Ja, er faltet um das Mikrofon sogar die Hände wie ein frommer Ministrant. Und schwafelt immer öfter pathetisch von den „zwanziger Jahren“, die er nun prägen will.
Jedenfalls hat der demütige Kanzler in spe die Zeichen der Zeit erkannt. Die Deutschen lechzen nach Führungskompetenz, nach Autorität, nach Leadership, nach Management: Anders ist nicht zu erklären, daß – nachdem der zwischenzeitliche Heiland Guttenberg vor zehn Jahren bravourös gescheitert ist – der neue Liebling der Nation ein stets gefaßter, nie lässiger, immer ernst dreinblickender blonder Blender mit guten Manieren und getrimmtem Bart ist, „Kanzler der Herzen“ wurde der (qua Parteizugehörigkeit) zum Glück chancenlose Christian Lindner schon genannt. Die beflissene Art, wie er peinlich genau darauf achtet, in Talkshows bloß nie die Beine übereinander zu schlagen oder eine breitbeinig-proletarische Sportschau-Sitzhaltung einzunehmen, wie er stattdessen den einen Fuß akurat vor den anderen setzt, erinnert an Knigge und noch mehr an Voltaire auf Holzschnitten des 18. Jahrhunderts. Ein aristokratischer Senioren-Gehstock würde dem 42-jährigen Alphamännchen auch gut stehen. Wahrscheinlich ist der auch noch echt, authentisch, und hat keinerlei Distanz zu sich selbst und seiner so klischeehaften Rolle. Ganz anders als der noch amtierende Arbeitsminister Hubertus Heil, der wirkt nun wirklich wie ein ganz schlechter Schauspieler, mit seinem altväterlichen Habitus. Wie ein Einzelhandels-Azubi von der Berufsschule, den man für eine Sitcom in einen ausreichend großen Anzug gesteckt hat und der sich eine Handvoll Gesten antrainiert hat und Phrasen über „anständige Bezahlung“, über „hart arbeitende Männer und Frauen“, über „Tarifpartner“. Dazu noch etwas Pomade ins Haar und die sonore Stimme geölt, das Gestikulieren und den seriösen Blick bis zum Erbrechen vor dem Spiegel geübt – und dennoch will das nicht echt wirken. Eher wie ein Laiendarsteller, Regieanweisung: bitte staatsmännisch! Schließlich geht es um Arbeit, und das in Deutschland.
Die Unionsparteien in der Opposition, das ist an sich eine schöne Vorstellung. Immerhin wird man nun das verklemmte Antlitz eines Brinkhaus oder einer Krampf-Karrenbauer nicht mehr so oft sehen müssen, oder das ausladende Herrenkinn des bald ehemaligen Gesundheitsministers, das wie aus einem Superhelden-Comic wirkt.
Doch daß ein Machtwechsel hierzulande so vergleichsweise ruhig und zivilisiert über die Bühne geht, ist nicht primär der ach so humanistisch-demokratischen Kultur geschuldet, sondern der Tatsache, daß die abtretende CDU samt ihrem Wahlvolk überhaupt keinen signifikanten Wandel fürchten muß: Olaf Scholz steht – genau wie damals Schröder – für ein trostloses Weiter So mit lediglich kosmetischen Änderungen: 1 oder 2 Euro mehr Mindestlohn, aber keine substantielle Revision des jahrzehntelangen Sozialabbaus, vielleicht noch ein bißchen fromme Symbolpolitik, die nichts kostet. „Respekt“ zum Beispiel, davon redet der Mann schon seit Monaten. Ist das die Tugendpolitik des 21. Jahrhunderts, ein Primat der Sittlichkeit, wie bei den islamischen Taliban?
Redaktion Sachzwang FM