Die bemerkenswerte Beweisumkehr des Schutzpatrons
Ein Kommentar der Redaktion Sachzwang FM
Eine Sensibilisierung der Zivilgesellschaft in Sachen Datenschutz war zu beobachten, schon lange bevor von "informationeller Selbstbestimmung" die Rede war (und man seit der DSGVO höflich gebeten wird, jeden Datenabfluß abzunicken, so man nicht hinterm Mond leben will). So war das Thema vor allem in den achtziger Jahren hochgekocht, nicht nur im Rahmen einer Massenmobilisierung gegen die Volkszählung 1987, sondern auch imzuge der Einführung der ISDN-Vernetzung, die sich im heutigen Kontext – wo jeder Mensch freiwillig ein elektronisches Ortungs- und potentielles Abhörgerät bei sich trägt – so läppisch ausnimmt wie eine Verfolgungsjagd mit Postkutschen.
Sensibilisiert ist auch der Bundesinnenminister, der seit der aktuellen Legislaturperiode auch als stolzer "Heimatminister" firmieren darf. Nun waren Innenminister immer schon tendenziell rechts, manche Prachtexemplare haben es zu nachgerade berüchtigter Reputation gebracht: Zimmermann, Kanther, die Liste ließe sich fortsetzen. Der aktuell amtierende Horst Seehofer reiht sich mühelos in die verruchte Ahnengalerie ein: Unvergessen sein Ausspruch, man müsse "bis zur letzten Patrone" die "Einwanderung in unsere Sozialsysteme" bekämpfen. Nun hat er wieder mal seinem Ruf alle Ehre gemacht. War insbesondere seine Partei, die CSU, jahrzehntelang – und nicht zuletzt in der o.g. Kontroverse um Volkszählung und Datenschutz – durch die spießbürgerliche Argumentation aufgefallen, wer nichts zu verbergen habe, müsse auch keine Durchleuchtung fürchten, so stellt sich dies auf einmal ganz anders dar. Seiner Lieblingsbehörde, der deutschen Polizei, will er just diese Argumentation nicht zumuten; er muß ahnen, was hier zu verbergen ist, wenn er den Schutzmännern und Gesetzeshüterinnen, den Strafverfolgern und Sondereinsatzfreunden und -helfern eine Untersuchung über möglichen Rassismus in ihren Reihen ersparen will. Wohlgemerkt eine neutrale, streng wissenschaftliche Untersuchung. Wer deren Ergebnisse fürchtet, so könnte man genau in spiegelbildlicher Diktion sagen, der hat gewiß etwas zu verbergen. Aber was bekommen wir seit Wochen und Monaten zu hören, kaum daß ein weiterer, x-ter "Einzelfall" rechtsextremer Polizeiverstrickung entdeckt wird? Es sei unerträglich, "unsere Beamten" mittels einer solchen Studie "einem Generalverdacht auszusetzen". Als wenn es noch um einen Verdacht ginge. Nein, längst geht es darum, einen quantitativ und qualitativ fundierten Eindruck von der Größe des Problems zu gewinnen. Und genau dies wird vom ehrenwerten Dienstherrn mit autoritärem Handstreich sabotiert.
In den meisten europäischen Ländern, aber nur manchen deutschen Bundesländern ist es eine rechtsstaatliche Selbstverständlichkeit, daß Polizeiangehörige Identifikationsnummern auf ihren Uniformen tragen, sodaß "Sicherheitskräfte", die ihre Kompetenzen überschreiten und z.B. ihr Gewaltmonopol im Einsatz auf Demonstrationen mißbrauchen, eindeutig festgestellt und zur Verantwortung gezogen werden können. Nordrhein-Westfalen war bis zum Regierungswechsel 2017 so ein Bundesland, die CDU/FDP-Koalition hob die Kennzeichnungspflicht jedoch (mitsamt den Stimmen der AfD) wieder auf und drehte so den zivilisatorischen Fortschritt wieder zurück. Mit ganz ähnlicher Argumentation: Ein solcher Generalverdacht sei "unseren Beamten" nicht zuzumuten, vollends absurderweise wurde auch noch "Datenschutz" angeführt, als wenn es um Klarnamen und nicht Nummern ginge. Während in England längst unabhängige Beschwerdestellen über Polizeiwillkür etabliert wurden und auf den Straßen Amerikas sogar der Ruf nach finanzieller Austrocknung der Polizei erklingt ("defund the police!"), steht die deutsche Behörde so proper da wie in den lupenreinen Demokratien Ungarns oder der Türkei. Es sollen sich weiterhin nur farbige Menschen, die unverhältnismäßig oft – wohlgemerkt ohne konkreten Anlaß – auf Drogendelikte oder Aufenthaltsstatus kontrolliert werden, oder Bürger, deren "informationelle Selbstbestimmung" in Zeiten von Massendatenspeicherung (sei sie staatlich oder privatwirtschaftlich) ein Hohn ist, anhören müssen: Wer nichts zu verbergen habe, müsse auch nichts befürchten. Die vielzitierte rechtsstaatliche Unschuldsvermutung gilt so ironischerweise vor allem für Vollstreckungsbeamte und nicht für deren Objekte, seien sie Staatsbürger oder nur Menschen. Daß ein Generalverdacht gegen beliebige Teile der Bevölkerung unproblematisch, gegen bewaffnete Inhaber des Gewaltmonopols aber problematisch sein soll, das bleibt festzuhalten: "Unbescholten" ist in Deutschland, so viel Klischee muß sein, nur die Polizei.
Und vielleicht sollten sich auch die Sicherheitsorgane, "dein Freund und Helfer", mal fragen, warum das Wort Polizeistaat – sogar in Deutschland – einen so schlechten Klang hat.