Stagnierendes "Infektionsgeschehen" ... oder nicht doch lieber: Winterschlaf?

Ein Kommentar der Redaktion Sachzwang FM

 

Als vorläufigen Höhepunkt der Selbstverblödung aktuellen Corona-Räsonierens kann, wie sollte es anders sein, der Titel einer Fernsehdiskussion mit Frank Plasberg gelten, der nicht nur hart aber fair ist, sondern auch einfallsreich. Die Sendung hieß, jetzt im Januar 2021, „Länger, härter, einfallsloser – Wie sinnvoll ist der Dauer-Lockdown?“ Und hier könnte die Leichtathletik Pate gestanden haben: „Höher, schneller, weiter“, oder der Heavy Metal: „Schneller, härter, lauter!“
Bezeichnend ist jedenfalls, daß nicht etwa gefragt wird: „Wie wirksam ist der Dauer-Lockdown?“ oder „Wie zielgenau ist der Dauer-Lockdown?“, sondern eben „Wie sinnvoll ist der Dauer-Lockdown?“. Denn mit genau dieser Bedeutungsnuance hat es wohl zu tun, daß außer Fachleuten und verantwortlichen Politikern auch noch zwei völlig unqualifizierte Zeitgenossen eingeladen wurden, um über den Maßnahmenkatalog zu debattieren:

  • eine sozialdemokratische Ministerpräsidentin („nicht nur sinnvoll, sondern auch wichtig“)
  • ein Virologe („einfallslos, aber alternativlos“)
  • ein Corona-Oberarzt („Die Zeit der Kompromisse und Lockerungen muß vorbei sein“)
  • eine liberal-konservative Journalistin („Die Regierung legt eine komplette Gesellschaft lahm“)
  • ein die „ratlose Politik“ tadelnder Kapitalvertreter („Wenn das bis Ostern so weitergeht, hält das die Wirtschaft, aber auch die Gesellschaft kaum aus“)

Welcher Expertise ausgerechnet der Arbeitgeberfunktionär die Einladung in eine Diskussionssendung über das Problem der Infektionseindämmung verdankt, was also ihn besonders qualifiziert, hier großspurig und vor allem wichtig wichtig mitzureden, bleibt des Gastgebers Geheimnis. Wahrscheinlich sein überbordender sogenannter Realitätssinn, der hingegen scharfzüngigen Gesellschaftskritikern üblicherweise abgesprochen wird, obwohl diese doch bestimmt nicht „einfallsloser“ argumentieren als der notorische Fürsprecher des Kapitals. Aber solche sind eh seit Jahren in keiner einschlägigen Talkshow gesichtet worden.

Überhaupt, die aus der Not geborenen Maßnahmen ausgerechnet auf ihre Originalität hin bewerten zu wollen: Warum fragt niemand danach, wie „einfallslos“ das alltägliche Frühstück ist; oder wie einfallsreich das Kloputzen, vor allem das berufliche; oder wie einfallslos die Jahrhunderte währende Existenz von Arbeitgebern und Arbeitnehmern; oder wie originell die Käfighaltung von zig Schülern und Schülerinnen in einem Raum, denen jahrelang im immergleichen Rhythmus eine einzige Lehrerin vor die Nase gesetzt wird?

Am irrsten sicherlich die Zuschauerfrage „Kann ich mir den Impfstoff selbst aussuchen?“ Das sind offenbar Leute, die sich vor 40 Jahren im Spezialhandel über die Bestellpreise für private Atombunker erkundigt haben. Oder Leute, die tatsächlich glauben, daß sie mit der Öffnung von Telefon- und Energienetz-Märkten das de facto ununterscheidbare Produkt durch – nach wie vor – dieselbe Verkabelung wirklich von einem anderen Anbieter geliefert bekommen, wenn sie nur eine alberne call-by-call-Nummer vorwählen, die irgendwelche Kontobewegungen bei Briefkastenfirmen auslöst. Wen also die Frage umtreibt, ob „ich mir den Impfstoff selbst aussuchen“ kann, der ist sicherlich privat-versichert und auch sonst gewohnt, als Premium-Kunde behandelt zu werden. Offenbar hat er den Sinn von Rationierung nicht verstanden und muß noch viel lernen, denn um eine solche handelt es sich ja offensichtlich, solange nicht genügend Impfstoff für alle verfügbar ist.
Derweil sagt mit schiefgelegtem Kopf der Gesundheitsminister mit dem überzeugenden Charme einer Drückerkolonne und der Seriosität eines Immobilienmaklers in jede Kamera, mittelfristig jedem Bundesbürger "ein Impfangebot" unterbreiten zu können. Vielleicht muß er aber auch vorher noch mit jedem einzelnen einen Beratervertrag samt Rechtsmittelbelehrung aufsetzen.
Angesichts der allgemein mit Irritation, Befremden und Murren aufgenommenen Nachricht, dieser oder jener Pharmakonzern liefere nun doch nicht fristgerecht die vertraglich vereinbarte Menge an Impfstoff, erinnere man sich einmal an die Verträge, die vor ein paar Jahren der Herr Verkehrsminister mit Privatfirmen zwecks Pkw-Maut geschmiedet hat. Die christsoziale Idee einer Ausländer-Maut stellte sich bekanntlich als EU-verfassungswidrig heraus, vertragsgemäß wird das gecancelte Projekt trotzdem recht kostspielig für die Allgemeinheit. Offenbar überwiegt das betriebswirtschaftliche Kapitalinteresse in dieser schönen Marktwirtschaft das Gemeinwohl ganz einfach, das sollte man spätestens da gelernt haben. Die öffentliche Hand hat also der gepamperten Privatwirtschaft saftige Entschädigungen zu zahlen, wenn ein Projekt nicht wie ausgemacht zustande kommt; umgekehrt – wie nun ausbleibende Impfstoff-Lieferungen zeigen – gilt das nicht. Das könnte zu denken geben. Daß sich die Öffentlichkeit, und sei sie staatlich verfaßt, noch in dringlichsten Fragen wie Infrastruktur und Gesundheitswesen von gewinnorientierter Privatwirtschaft abhängig macht, spricht ohnehin Bände über die Einrichtung der Welt, in der wir leben.

 

Was das sog. „Infektionsgeschehen“ betrifft, so ist ja schon das Stagnieren der Zahlen – mit den arbiträren Schwankungen Woche für Woche – ein Riesenerfolg gegenüber dem ungebremsten und zwar exponentiellen Wachstum, das binnen Wochen über alle Maßen explosionsartig die Länder überrollt hätte.
Weil genau dies nicht verstanden wird, steht man vor jenem Dilemma: Alle Maßnahmen, die „vermittelbar“ sind, helfen zu kaum mehr als zur Stagnation der gegenwärtigen Lage. Und alle Maßnahmen, die tatsächlich ein Sinken der Infektions- und Sterbezahlen einleiten würden – sie würden auf eine Art Winterschlaf hinauslaufen müssen –, sind „nicht vermittelbar“; und zwar einer Öffentlichkeit nicht vermittelbar, die genau zu wissen meint, was hier „unverhältnismäßig“ ist. Am besten weiß das natürlich der Wirtschaftsmann, wenn er umsichtiges Reagieren „mit Augenmaß“ anmahnt, denn mit Zahlen kennt der sich ja am besten aus.
Das jeweils aktuelle „Infektionsgeschehen“ ist aber abhängig von der kumulierten vergangenen Entwicklung. Im Umkehrschluß wissen daher Fachleute aus Virologie und Epidemiologie, daß – angesichts der drohenden exponentiellen Verlaufsform – die Lage eben nicht von der Gegenwart her zu beurteilen ist, sondern von der Zukunft aus. Und hier blamiert sich dann auch der volkstümliche Begriff von „Verhältnismäßigkeit“, der sich immer am Gegebenen, also der Gegenwart orientiert. Das Denken von der Zukunft aus ist einer Gesellschaft, die schon lange keinen Begriff mehr von Zukunft (geschweige denn von Utopie) hat, dermaßen ausgetrieben, daß es tatsächlich schwer fällt, dem erdrückenden Positivismus des je Gegebenen noch etwas entgegen zu setzen. Und wer erst einmal so denkt, bei dem verfängt dann auch das demagogische Gerede, „die Maßnahmen“ seien eine Art „Strafe“ für die Bevölkerung, die sich in der Vergangenheit unbotmäßig, nicht brav und fügsam genug verhalten hätte. Nein! Die eindämmenden Maßnahmen zielen, zumindest primär, nicht pädagogisch auf eine Dressur, sondern zielen, relativ sachlich, auf eine konkret absehbare künftige Epidemie-Entwicklung.

Obwohl es ja ein schöner, verlockender Gedanke wäre: Bei Inzidenzraten von, sagen wir, 50 (Neuinfizierten pro 100.000 Menschen) könne doch locker und lässig ein wenig „gelockert“ werden. Dummerweise leistet aber genau das dem Oszillieren des „Infektionsgeschehens“ Vorschub, sodaß sich dann die Zahlen wie das Bimetall eines Thermostats verhalten würden: immer wieder rasant steigen, um danach wieder langsam zu fallen, ohne daß sich daraus langfristig eine veränderte Perspektive ergäbe.
Das ist mit einer Feuerwehrkohorte vergleichbar, die ausrückt, einen grassierenden Waldbrand zu löschen, und die ihre Aktionen nicht etwa einstellt, wenn der Brand gelöscht ist; sondern die bereits abrückt, wenn der Waldbrand klein genug ist, um einen Finanzpolitiker sagen zu lassen, der Einsatz werde sonst zu teuer, er sei schon jetzt „unverhältnismäßig“. Und: der Vergleich hinkt nicht. Auch ein Flächenbrand breitet sich unkontrolliert und rasant aus, wenn ihm nicht rechtzeitig und entschieden und konsequent Einhalt geboten wird.

Bei einer hinreichend niedrigen Neuinfektionsrate ließen sich einzelne „Infektionsketten“ transparent zurückverfolgen, heißt es; das falle in den Aufgabenbereich der mittlerweile völlig überlasteten Gesundheitsämter. Zur Unterstützung bei solcherart Fleißarbeit sah man hin und wieder im Fernsehen Armeeangehörige auf Bildschirme starren und Computermäuse klicken. Mit Gehirn ausgestattete Menschen fragen sich zwar, warum die Soldaten auch im Büro olivgrüne Tarnkleidung tragen, obwohl man sich dort doch sicher am besten in weißen Kitteln tarnen könnte vor den Wänden, Büromöbeln, EDV-Gerätschaften und Aktenschränken. Aber wahrscheinlich geht es nur darum, daran zu erinnern, daß das kommandierbare Befehlsempfänger sind, fast beliebig manövrierbare menschliche Ressourcen. Und daß Uniformierte gute Menschen sind.

Aber bis dahin bekommen wir – seit nunmehr fast einem Jahr – auf allen Kanälen jammernde Mittelständler und andere Kleinkapitalisten zu hören, die wegen Lockdown-Maßnahmen und ausbleibender Geschäftstätigkeit ihr kommerzielles Lebenswerk bedrohlich wanken sehen und nun vielleicht ihr schönes Haus oder ihren häßlichen SUV nicht werden abbezahlen können. Bei jedem, der an einer anderen Form von Gesellschaft interessiert ist (eine ohne Flaschensammler, Tafeln und Obdachlosigkeit), müßte sich hier das Mitleid in Grenzen halten, wenn es diesmal nicht – wie doch sonst immer – eh nur die Schwachen trifft, die keine Lobby haben. Ehrlicherweise kann man sich in bezug auf den gebeutelten Mittelstand sogar einer gewissen Schadenfreude nicht erwehren, auch wenn das natürlich kein schöner Charakterzug ist.

 

Ein anderes Zeitzeichen der Ära, in der wir leben, sind die längst nicht mehr uniformierten, sondern heutzutage rechtslibertär-buntscheckigen Wutbürger, die Anfang Januar 2021 auf Geheiß ihres Führers Trump – und wahrscheinlich „Wir sind das Volk!“ skandierend – das Capitol gestürmt haben. Daß ein symbolträchtiges Staatsgebäude gegen antiautoritär-linksradikale Revolutionäre, würden die sich mit derartigen Propagandaaktionen begnügen wollen, wesentlich robuster geschützt worden wäre – geschenkt. Früher hieß sowas „Marsch auf Rom“ oder „Marsch auf Berlin“ und wurde von frustrierten Ex-Soldaten, den ersten Faschisten nämlich, praktiziert; man müsse den „November-Verbrechern“, diesen lumpigen Demokraten, Kapitulanten und Vaterlandsverrätern, mal so richtig einheizen. Die neue Dolchstoßlegende geht so: Eine völlig intakte deutsche Wirtschaft, die nie zu brummen aufgehört habe, sei vom verweichlichten Staat mit seiner „Überreaktion“ zwecks Gesundheitsschutz ohne Not ausgebremst worden, jedenfalls sei das alles „unverhältnismäßig“. Und außerdem sei dieser verweichlichte Staat auch noch autoritär. Obwohl doch große Teile des nationalen Kapitals unbeeindruckt weiter produzieren, anstatt sich auf die Aufrechterhaltung wirklich humanitär relevanter Bereiche zu beschränken. Die da wären: Lebensmittel- und gesundheitliche Versorgung, Aufrechterhaltung essentieller Infrastruktur, eben eine Art veritabler Winterschlaf, unter fortlaufender Alimentierung der Bevölkerung.
Diese – leider unrealistische – Perspektive wiederum ist das ultimative Horrorszenario eines Friedrich Merz, der sich nicht schämte, ganz unverhohlen den Zuchtmeister zu geben, als er kürzlich das Fußvolk mahnte, es solle sich nun – im Ausnahmezustand – bloß nicht ans Nichtstun gewöhnen. Das erinnerte schon gewaltig an Jeremy Bentham, der im 19. Jahrhundert empfahl, die Arbeiter (Männer, Frauen, Kinder) müßten durch den 15-Stunden-Tag derart mit Arbeit eingedeckt werden, daß sie abends so todmüde ins Bett fielen, daß sie nicht einmal Zeit hätten, dem Regime „auch nur in Gedanken“ zu entfliehen.

 

"Leben willst du? Kannst du das denn?"
( Seneca )