Schäuble weiß, "daß wir sterben müssen"

"Aber wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muß ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. [...] Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, daß wir sterben müssen."

Wolfgang Schäuble, Bundestagspräsident, am 26. April 2020

 

Der Zielgruppe von Querfunk, sollte es eine solche abgrenzbar geben, ist der Komplex sicher von einer Textzeile der Band Slime bekannt. Diese sang 1981, "Deutschland muß sterben, damit wir leben können", und bezog sich dabei in sympathischer Weise auf jene berüchtigte Propagandaparole,

die ja einfach humanistisch umgekrempelt wurde, nicht ohne eines der beiden Müssen durch Können zu ersetzen. Nun sollte man bei Punk- und vor allem Deutschpunk-Lyrik nicht die höchsten stilkritischen und hermeneutischen Meßlatten anlegen, aber Slime hatten zumindet mit dieser Parole zweifellos Recht. Es ging um nichts geringeres als die Erkenntnis, daß das Verschweißen von Menschen zu Völkern und Staatsbürgern, zu Menschenmaterial und Kanonenfutter (und Kanonenfütterern) ihnen in letzter Konsequenz zum Nachteil gereicht.

Und nun Schäuble, der sich schon zu Dr.Kohl-Zeiten und seitdem immer wieder mal mit autoritären Vorhaben hervorgetan hat. Immer penetranteren Vorhaben, den Staat im Bürger zu internalisieren, ja ihm einzupflanzen, Mensch und Staatsbürger ununterscheidbar werden zu lassen, und – komplementär dazu – die Repressionsorgane und "Dienste" aufzurüsten.² Beim Dienen bekommt ein Staatsneurotiker vom Format Schäuble ohnehin leuchtende Augen, da wird "Bürgersinn" immer ganz groß geschrieben.
Vor lauter AfD und Lindner hatte man den verhinderten Bundespräsident und -kanzler, der ja immerhin in den Ressorts Finanz- und Innenpolitik reüssieren konnte, imzuge der Corona-Krise schon fast vergessen. Nun hat er sich mit einem Statement in die Debatte eingeschaltet – oder sogar, wie es heißt, eine Debatte losgetreten –, das auf beklemmende Weise eine Banalität formuliert. Daß nämlich, nach heutigem Kenntnisstand der Medizin, Organismen wie z.B. Menschen irgendwann "sterben müssen", ist allgemein bekannt und bedarf keiner gesonderten Erwähnung. Vielmehr geht es um die klingende Phrase, vor allem die der ersten Person plural, in Pathos und Stumpfheit eines Heidegger würdig: "daß wir sterben müssen". Sogar einen trochäisch schwingenden Rhythmus hat sie. Ein Schuft, wer dabei an Marschrhythmus denkt ("und wenn wir sterben müssen").

Niemals würde er es offen so formulieren, wie Nationalkonservative es vor 100 oder 150 Jahren³ noch ungeniert forderten, daß nämlich die Leute sich dem Staate unterzuordnen hätten, das ist heute nicht mehr "zeitgemäß", nicht mehr gefragt. Heutzutage ist man in Sachen Kommunikation weiter, da wünscht man sich lieber, die Menschen mögen im Staat aufgehen oder so. Auch wenn Schäuble – freilich um sich gegen genau den Bezug, der hier hergestellt werden soll, abzusichern – seinem demagogischen Halbsatz das Bekenntnis voranstellte, natürlich sei "die Würde des Menschen" der Verfassung und allen Räsonements höchstes Gut. Und nicht das Leben "um jeden Preis". Man solle also doch bitte nicht für das kleinliche Eigenwohl einer gesundheitlich gefährdeten Randgruppe "das ganze Land" lahmlegen, zumal das produktive und tüchtige Deutschland.
Seit diesem Einwurf kann sich Schäuble vor Zustimmung kaum noch retten, nur ein paar linksgrün Versiffte und Bedenkenträger aus der wohlgemerkt medialen Öffentlichkeit wollen ihm mal wieder partout das Wort im Munde umdrehen. Dem läßt sich nur entgegnen: Wehret den Anfängen.

 

 

²) Man erinnere sich an das berühmte Schablonen-Graffiti und T-Shirt-Motiv "Stasi 2.0", das Schäubles Konterfei zeigt, weil er unverhohlen eine stärkere Überwachung des Internet propagiert hatte

³) also ein bis zwei Weltkriege (und eine reeducation) vorher