Infektionsgeschehen: kein Zocken, kein Feiern
Schade, daß der verblichene Peter Scholl-Latour die Coronakrise nicht mehr hat erleben können, schade, daß der unerschrockene Onkelreporter nicht mehr am "Infektionsgeschehen" hat teilhaben können. Unvergessen, wie er am Abend des 11. September 2001 – die Rauchschwaden hingen noch über Manhattan – mit ernster Miene in die Mikrofone dekretierte, dies sei "das Ende der Spaßgesellschaft", als wäre er der Pressesprecher von Al Qaida. Was wir seit März 2020 erleben, kann einem zwar auch den Spaß verderben, aber ein "Ende der Spaßgesellschaft" verkünden zu wollen, setzte ja nun voraus, daß es jemals eine solche gegeben habe. Zweifellos changiert das Selbstbild der westlichen Gesellschaften zwischen ausgelassenem Hedonismus und einer sich in den letzten vier Jahrzehnten beständig verschärfenden Leistungskonkurrenz; wie das beides zusammenhängt, wäre eine eigene Reflexion wert. Jedenfalls aber ist das gutgelaunte Selbstbild pure Ideologie, davon zeugen nicht nur die ebenfalls seit Jahrzehnten stark zunehmenden Diagnosen psychischer Erkrankungen ("Volkskrankheit Depression"), Zunahmen sogenannter Tafeln und Flaschensammler, sondern auch eine lange schon latente, in den letzten Jahren zu sich gekommene Verbiesterung der Konkurrenzsubjekte, sie sich schließlich als gesellschaftlicher Rechtsruck bahnbricht. Haßideologien und eine identitäre Enthemmung erleben eine Renaissance, wie es sie seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts nicht mehr gegeben hat, und längst pfeifen es die Spatzen von den Dächern, daß natürlich die neoliberale Formierung ("Deregulierung"), der Marktradikalismus diese unguten Transformationen ins Werk gesetzt hat; mit einer Hartnäckigkeit und Nachhaltigkeit, die staunen macht. So sehr das nämlich alle beklagen mögen, verbleiben sie aber doch auf einem hilflos moralischen Lamento, ohne sich noch eine anders eingerichtete Gesellschaft vorstellen, geschweige denn für sie eintreten zu können.
Doch soll es hier um die Epidemie gehen – sie bietet dem liberalen Regime die Möglichkeit auszutesten, wie viel Herrschaft schon internalisiert ist, und welche menschlichen Impulse noch frei flottieren. Denn allen Ernstes sollen ja Freizeitvergnügen und soziales Miteinander auf ein Minimum reduziert werden, während gleichzeitig das maschinelle Funktionieren der kapitalistischen Wirtschaft möglichst reibungslos gewährleistet wird. Hier wird nicht nur kenntlich, wie sich der politische Apparat die Prioritäten menschlichen Lebens vorstellt, sondern auch, daß es seine Basis kaum anders sieht: Nicht fordert die Bevölkerung in diesem Ausnahmezustand ein garantiertes Einkommen für alle und eine Reduktion der Arbeitsverausgabung auf unbedingt nötige Tätigkeiten. Sondern umgekehrt: Diejenigen, die nun ohne Einkommen dastehen, monieren irre, daß sie "nicht arbeiten dürfen". So sehr identifizieren sich diese Menschen mit dem "Kulturschaffenden", dem Hotelier, der Gastronomin, die sie in ihrer Arbeitszeit mimen müssen, daß sie nicht Einkommen fordern, sondern arbeiten zu "dürfen". Gegner der bereits im Frühjahr ausgerufenen "neuen Normalität", sind sie Freunde der alten Normalität und singen dabei das Lied ihres geehrten Arbeitgebers. So gut dressiert, daß sie nicht Teilhabe an Geld oder Gütern einfordern, sondern "von ihrer Hände Arbeit leben" zu können, so die längst re-etablierte völkische Phrase.
Das besinnungslose immer so Weitermachen vernebelt allerdings den Protagonisten der vorgeblichen Spaßgesellschaft – die doch erst noch zu errichten wäre! – die Sinne, was hier nur andeutungsweise am Wortgebrauch zweier Begriffe verdeutlicht werden soll: dem Zocken und dem Feiern. Natürlich wäre es albern, im Duktus deutschnationaler Sprachpuristen den stetigen Wandel, dem Sprache nunmal per se ausgesetzt ist, zu bejammern. Aber die folgenden beiden Bedeutungswandel sind wohl bezeichnend: "Zocken" meint Glücksspiel, insbesondere Geldwetten, man zockt also um etwas und gegen jemanden. Seit Jahren wird aber jegliches Spielen, insbesondere im Sport und am Computer, "zocken" genannt. Pikant genug, daß das Spiel, Inbegriff des Unbeschwerten, nur noch mit dem Wort für taktisches Agieren in Konkurrenz bezeichnet wird. Damit nicht genug: Mittlerweile bemächtigt sich der hirnerweichende Jargon sogar musikalischer Darbietungen: "Ey, Metallica zocken in Stuttgart!"
Ebenso das "Feiern": Eine vielleicht altmodische Lesart kennt das Feiern nur mit Akkusativobjekt, es wird nämlich ein Geburtstag gefeiert oder eine Hochzeit, der Aufstieg in die nächsthöhere Liga oder Weihnachten. Ob es dabei gesittet zugeht oder exzessiv, ist erstmal egal, jeder feiert auf seine Weise und das ist auch gut so. Aber der gängige Sprachgebrauch ist auch hier längst, das ließ sich vor allem anhand der Beschwerden "in Coronazeiten" notorisch vernehmen, daß man nicht mehr "feiern gehen" könne. Früher hieß das, zugegebenermaßen unbeholfen, "Party machen", eine Party kann ich nämlich auch ohne besonderen Anlaß ausrichten. Doch die vermeintlichen Hedonisten des Postmodernismus, nicht erst bei den diesjährigen Krawallen war von einer ominösen "Partyszene" die Rede, scheinen "feiern" als eine Art Hobby anzusehen, wie früher Musik, Wandern, Lesen, Gärtnern, Schwimmen oder Sammeln. Nichts gegen einen ausufernden Tanzabend oder einen nicht enden wollenden Umtrunk! Aber seit den 90er Jahren sehen viele Parties in den "Clubs" so aus, als wären sie nicht der Gegenentwurf zur Maloche, sondern deren paßgenaues Komplement – samt den Leistungsträger-Drogen, die überhaupt keinen Eskapismus mehr versprechen. Überhaupt, "Clubs": Diskos, Diskotheken heißen die ja schon lange nicht mehr, obwohl sie es natürlich effektiv sind. Club, das assoziiert dem Lohnarbeitswürstchen am wochenendlichen Freigang, daß auch er oder sie an ganz einer exklusiven und erlesenen Runde und ihren Genüssen teilhat, wo doch nur die Lohnarbeit anderer den "Club" am Laufen hält und außerdem das ganze Setting, die "Feiernden" inklusive, nach Arbeit aussieht: kommerzielle Bespaßung wie anderswo auch. Die zum Regelvollzug der Arbeitsgesellschaft gehört wie das Ausatmen zum Einatmen.