Die Grenzen werden geschlossen, die Menschen rücken zusammen

Ein Kommentar

Die Allgegenwart des schon jetzt äußerst penetranten Corona-Themas wird irgendwann nicht mehr gegeben sein, das Denken, das nun eingeübt wird, allerdings schon. Wir erleben – „in Echtzeit“, wie es so schön heißt – eine Transitionsphase des öffentlichen Bewußtseins.
Nichts ist zu sagen gegen die völlig pragmatischen, wahrscheinlich wirklich wirksamen Maßnahmen, um die nicht zu verhindernde Ausbreitung des Virus wenigstens nach Kräften zu verlangsamen, damit das Gesundheitssystem nicht kurzfristig überlastet wird. Das scheinen, wie allerorten festgestellt wird, „die Menschen verstanden“ zu haben.
Aber äußerst ideologisch sind doch manch andere Aspekte der öffentlichen Diskussion:

  • Die Verteidigungsministerin, Gouvernante Kramp-Karrenbauer, bietet die Hilfe der Bundeswehr bei der Krisenbewältigung an. Wie bei den Fernsehbildern Sandsäcke schleppender Soldaten imzuge der Oderflut noch in den 90er Jahren geht es offenbar darum, die Bevölkerung, die – zumindest in Restbeständen – noch nicht vollends von der Gutartigkeit dressierter Gewaltmenschen in Uniform überzeugt ist, von der Harmlosigkeit der gehorsamen Befehlsempfänger zu überzeugen, wenn diese in der Öffentlichkeit irgendwelche Aufgaben übernehmen und emsig Arbeiten verrichten. Um diesen fragwürdigen Gewöhnungseffekt zu beschleunigen, hatte die Wehrministerin ja schon vor Monaten stolz ihren Deal mit der Deutschen Bahn vorgestellt: Soldaten sollen kostenlos mit der Eisenbahn fahren dürfen, wenn sie nur in Uniform als solche erkennbar sind. Offenbar geht es also nicht darum, die klammen Rekruten finanziell zu entlasten, sondern es geht einzig um den staatsbürgerkundlichen Respekt vor Männern (und Frauen) in Uniform. Eine feine Initiative aus der selbsternannten politischen Mitte, die sich sonst doch so gern mit zivilgesellschaftlichen PR-Aktionen gegen den Rechtsruck schmückt.

  • Auch wird mit Leichtigkeit wieder die Sprache der Kriegswirtschaft etabliert, da arbeiten Ärzte „an vorderster Front“, da ist von „Materialfluß“ und „Lieferketten“ die Rede, von „Infektionsketten“ sowieso. Das Wichtigtuerische und Großsprecherische setzt sich vom Feldherrenhügel aus mit Selbstverständlichkeit in Szene. Schließlich sind wir doch alle nur glückliche Zahnrädchen in der Maschinerie und Glieder in irgendwelchen Ketten. Und das betriebswirtschaftliche Pendant zum Volksgenossen ist natürlich der „Mitarbeiter“.

  • Viel wird in diesen Tagen von Solidarität geredet, wo doch nur die Volksgemeinschaft gemeint ist. Mit einem gerüttelt Maß Herzenswärme wird zur Kenntnis genommen, daß hier und da „die Menschen“ wieder zumindest geistig „zusammenrücken“ angesichts der so omnipräsenten wie unsichtbaren viralen Gefahr. Eine Herzlichkeit, die vor allem diejenigen beeindruckt, die, schneidig wie sie sind, jede „Krise als Chance“ sehen oder, noch schlimmer, immerzu „die Not zur Tugend machen“ wollen. Passend dazu wird man sich und seinen Kindern und Enkeln in 20, 30 Jahren stolz von den schweren Zeiten um 2020 erzählen, wie der Landser vom Steckrübenwinter. Daß es eben nicht um menschliche Solidarität an sich geht, sondern um Nächstenliebe anstelle von Menschenliebe, zeigen einerseits die Grenzschließungen an, seien diese an den deutschen oder an den europäischen Außengrenzen. Die Grenzen werden geschlossen, die Menschen rücken zusammen. Andererseits das konforme Gerede darum, daß derzeit fehlende medizinische Hilfsmittel (Gesichtsschutzmasken, Beatmungsgeräte, Virentest-Kapazitäten) doch selbstverständlich bei „deutschen Produzenten“ geordert werden müssen, die auch „in Deutschland“ produzieren sollen, was doch dann bitte niemand wegkaufen kann, der es womöglich dringender benötigt. Wissen Sie, jeder ist doch sich selbst der nächste, gell?

  • Die Diskussion über wirtschaftliche Folgen der Pandemie ist aber die Krönung der ideologischen Zuckerbäckerei. Natürlich können diejenigen, die jetzt – weil Teile des gesellschaftlichen Lebens zum Erliegen kommen – auf Wochen keine Kundschaft mehr haben, nichts dafür, daß ihnen Einnahmen wegbrechen, was sie möglicherweise in die Insolvenz treibt. Natürlich möchte man allen solchen Menschen helfen, aber die Rede ist wieder mal nur von „den Unternehmen“, die leiden. Und seien es „Selbständige“, „Kulturschaffende“ und „Freelancer“. Von „unternehmerischem Risiko“ und davon, daß Marktwirtschaft und Konkurrenzgesellschaft mit Notwendigkeit Verlierer produzieren, ist plötzlich keine Rede mehr. Unter normalen Umständen ist es offenbar fein hinnehmbar, daß manche auf der Strecke bleiben, ist ja nicht mein Problem. Aber nun in diesen viralen Zeiten, sobald es auf einmal qua „höherer Gewalt“ mein Problem wird, müsse doch „den Menschen“, nein: pardon, „den Unternehmen“ geholfen werden! Darf man eine solche Herzenshaltung befangen, ja korrupt nennen? Untergehen sollen schließlich nur die, an deren Scheitern nicht der Ausnahmezustand schuld ist.

Wäre die Linke im Jahrzehnte währenden Triumph neoliberaler Ideologie nicht auf ihr mitleiderregendes Kümmermaß geschrumpft und politische Vernunft weitgehend marginalisiert, so ließe sich heute mit Leichtigkeit einsehen und diskutieren, daß die Konkurrenzgesellschaft (vulgo: der Kapitalismus) spätestens in solchen Ausnahmesituationen das denkbar schlechteste Setting ist. Aber das merken vermutlich nicht mal die Betroffenen.

 

Redaktion Sachzwang FM