Dick Dale (1937–2019)

Um den eigentümlichen Charakter, ja die Stimmung der Musik zu beschreiben, genügt es vielleicht, die bloßen Namen der bekanntesten Bands des Genres auf sich wirken zu lassen. Da sind Die Wagnisse und da sind Die Schatten. Es war Anfang der sechziger Jahre, der klassische Rock 'n' Roll der fünfziger ist gerade zuende gegangen, britischer Beat und Pop sind noch im Entstehen begriffen.
Es ist die Zeit, als die von Nazi-Wahn und verlorenem Weltkrieg verkaterten Deutschen sich verklemmt weltoffen geben und zum erstenmal nach Italien in den Urlaub fahren; und in den Vereinigten Staaten wie auch im Rest der Welt der Kalte Krieg brütet – nicht zuletzt in der kulturellen Produktion. Die kurze musikhistorische Übergangsphase steht, zumindest im Rückblick, für eine Manie kurzlebiger, teils kurioser Tanzstile mit eigentümlichen Namen; und eben höchst prägnanter Instrumentalmusik von den amerikanischen Ventures oder den britischen Shadows. Musik, die sich der Klanginstrumente des Rock 'n' Roll bedient, auch seines Rhythmus – die aber Hörerinnen und Hörer melodisch und harmonisch in ein gänzlich anderes Universum entführt. Ein Einfluß ist die Exotica, die recht klischeebeladen das westliche Publikum mit musikalischen Versatzstücken orientalischer Art oder von fernen Kontinenten verzückt. Als cultural appropriation, also dreiste Aneignung wird sowas neuerdings gegeißelt. Ein anderes Charakteristikum ist der bloße Sound, er ist extrem hallgeschwängert und ohne Vergleich in der bisherigen Musikgeschichte. Es ist die elektrische Gitarre, das kultische Instrument schon des Rock 'n' Roll, die hier so verwegen wie charakteristisch verzerrt wird – ein halbes Jahrzehnt, bevor der Fuzz, ein anderer Effekt, zum prägnanten Sound von Beat und Rockmusik werden wird. Das laute und so typisch hallende, bisweilen dröhnende Nachklingen der gezupften Gitarrensaiten gibt dem Stil seinen überaus lautmalerischen Namen: twang. Nur Banausen nannten und nennen das profan surf music. Und so ist Twang das wunderliche Kind von Les Baxter und Link Wray. Typische Themen der Lieder sind Naturgewalten, Grenzerfahrungen oder der Weltenraum, kurz: das Fremde, das Unbekannte, die Faszination, auch das Unheimliche. Die Musik und ihre Ästhetik entsteht und erblüht im ersten Jahrfünft der Raumfahrt. Sie lebt eigentlich von Klischees: Fremde Kulturen, exotische Kulte, der edle Wilde, Spiritualität, melancholische Einsamkeit, weites Land, Westernromantik.

Die Musik, Nachfolgerin und zwischenzeitlich Erbin des Rock 'n' Roll, ist damit so rebellisch-dynamisch wie mythisch-versteinert. Ein offensichtlicher Widerspruch – der sie nur umso interessanter und geheimnisvoller wirken läßt. Daß nicht gesungen wird, macht das Ganze regelrecht enigmatisch. Kaum zu glauben, und doch bei Kenntnis des Genres möglich anzunehmen: In dieser Szene gibt es womöglich mehr Bands als Lieder. Twang-Musik besteht aus lauter Klassikern, die noch nicht, wie später in Beat und Rock, aus Riffs, sondern aus klingenden Hooklines, leitmotivartigen Themen bestehen, wie etwa bei Filmmusik. Kaum ein Genre ist so kanonisiert wie der Twang.
Irgendwie ist es Männermusik, klischeehaft und strukturkonservativ, westliche Musik einer dominanten Moderne – doch im Moment ihres Falls, nämlich im Stande der Dämmerung. Oft tragisch, ja nicht selten pathetisch. Jedoch weniger auftrumpfend als eigenartig verschroben, das HB-Männchen an der Gitarre. Schon zehn Jahre später wird in Form von Hippiekultur, Frauenemanzipation, einer hegemonialen Linken dieses ästhetische Modell steinzeitlich veraltet wirken. Twang ist in formaler Hinsicht konventionell, inhaltlich aber mythisch aufgeladen bis zum Anschlag. Forsch, aber gebrochen – das muß man erstmal hinkriegen. Außen spießig, innen heiß und kalt.

Für den Twang steht wie kein zweiter der Gitarrist Dick Dale. Er ist am 16. März 2019 gestorben, wenige Wochen vor seinem 82. Geburtstag. Als ich ihn einmal aufspielen sah, leitete er das Konzert so schüchtern wie routiniert ein mit den Worten: „I'll make your ears bleed.“ Seine Musik wird bleiben, sie ist zeitlos.

 

"Guitars twang, the sun shines, all is right with the world."

"I even sleep better at night, whenever I know a twangy guitar is being twanged."

(John Peel)

 

Ein Nachruf vom Hörsturz-Sekretariat