Autoritäten empfehlen: Staatlich erlaubtes Nachdenken
Ein Kommentar der Redaktion Sachzwang FM
In seiner Selbstdarstellung heißt es, "der Deutsche Ethikrat beschäftigt sich mit den großen Fragen des Lebens. Mit seinen Stellungnahmen und Empfehlungen gibt er Orientierung für die Gesellschaft und die Politik. [...] Der Deutsche Ethikrat hat [...] die Nachfolge des [...] von der Bundesregierung eingerichteten Nationalen Ethikrates angetreten." Nun hat die gesalbte Institution mal wieder, gleich einem moralischen Donnerschlag, das Wort ergriffen ... und als wäre das der Rede wert.²
I.
Doch worum geht es überhaupt? Den Ethikrat treibt, wie alle Menschen, vor allem alle Deutschen, die ungemein originelle Frage um: "Ab wann soll man die strengen Maßnahmen in Deutschland wieder lockern?" Und der Rat der Ethik-Weisen läßt höchstverbindlich verlautbaren: "Es ist zu früh, Öffnungen jetzt vorzunehmen, aber es ist nie zu früh, über Kriterien für Öffnungen nachzudenken. Alles andere wäre ein obrigkeitsstaatliches Denken, das bei uns nicht verfangen sollte und mit dem man das so notwendige Vertrauen der Bevölkerung nicht stärken würde." So der Vorsitzende des Ethikrates, passenderweise ein Theologieprofessor namens Dabrock.
Der mündige Bürger, die mündige Bürgerin, so ungemein mündig, daß er oder sie doch tatsächlich der offiziellen ethischen Befugnis bedarf, um geistig tätig zu werden. Und dann noch gegen "obrigkeitsstaatliches Denken", als wenn es nicht genau um dessen Einübung ginge. Wozu sonst bräuchte man in einer mündigen Gesellschaft einen Ethikrat? Ein Verfassungsgericht? Überhaupt einen Staat?
Doch sind ja bekanntlich die Deutschen, die gerne den Rest des Kontinents (und möglichst der ganzen Welt) niederkonkurrieren, nicht besonders mündig, sondern viel lieber fleißig, belastbar und diszipliniert. Vermutlich wollen sie heute in ihrer übergroßen Mehrheit doch nur schnell wieder ans Arbeiten. Das kann doch so nicht weitergehen! In Scharen klagen sie über "Lagerkoller", als wüßten sie, wovon sie da reden, die doch seit jeher andere in Lager gesteckt haben. Schön wäre es, wenn mal jemand gegen den selbstauferlegten intellektuellen Lagerkoller aufbegehrte.
"Die Mitglieder des Ethikrats fordern eine offene Debatte", heißt es. Doch wer ist hier Adressat? War es bisher irgendwem verboten, über Termine, Roadmaps oder auch nur Kriterien zur Aufhebung der administrativen Maßnahmen zu debattieren? zu räsonieren? zu schreiben oder zu reden? Offensichtlich nicht.³ Die vermeintliche Forderung des Ethikrats ist doch nur ein Appell; der Kurfürst wünscht eine nationale Aussprache im Volke über die wichtige Frage, wann wieder fleißig zu arbeiten sei!
Wer erst einen behördlichen Tip braucht, um geistig tätig zu werden, von dem ist ohnehin nichts gutes zu erwarten. Mitnichten ist es nur eine Frage von Stil und Ansprache, daß die Maxime "Denke selbst!" ein Paradox darstellt, kommt sie doch selbst in jener imperativen Form daher, die nur Leute erreicht, die nichts dabei finden, Befehle auszuführen. Wer selbst denkt, läßt sich dazu gerne implizit und inhaltlich anregen oder provozieren, bedarf aber erstens keiner Anweisung und zweitens keiner politischen oder moralischen Autorität – und sei es ein "Ethikrat", der das Outsourcing intellektuell-moralischen Räsonements aus der bürgerlichen Regierungspraxis nur besonders pikant verdeutlicht. In der verblichenen DDR hatte man immerhin noch die Ehrlichkeit, Chefideologen (auch die eigenen) als solche zu bezeichnen und auch die eigene Wühlarbeit als "Desinformation und Propaganda" zu benennen.
II.
Die appellative Geste der ethisch-moralischen Chefdenker atmet denselben Geist wie das in der Verfassung verankerte Widerstandsrecht gegen verbrecherische Befehle. Wer nur deshalb gegen möglicherweise menschenverachtende Staatspraxis opponiert, weil mal ein "Widerstandsrecht" in der Verfassung gestanden haben sollte (ein solches würde im Ernstfall gewiß als erstes kassiert werden), ist in Sachen Humanismus, Mündigkeit und selbständigem Denken ganz schlecht beraten.
Als vorgebliche Lehre aus dem staatgewordenen Nazifaschismus hat man die Farce des nominellen "Widerstandsrechts" in den Verfassungsrang erhoben. So feierlich wie schwammig wird dort "geregelt", daß im Falle einer (natürlich plötzlich auftretenden und diese Gesetzesregelung unangetastet lassenden) "Diktatur" Befehle verweigert und anderweitiger Widerstand geleistet werden "darf" und sogar soll. Natürlich gegen genau die Staatsgewalt, die über die Einhaltung des gesalbten Verfassungswortlauts (in immer noch funktionierender Gewaltenteilung) wacht – so ist die legislative Patientenverfügung des Staates offenbar gemeint. Die mit ihrem Staat identischen Deutschen scheinen solcherart Regelungen wirklich zu bedürfen: "Revolution in Deutschland? Wenn die einen Bahnhof besetzen wollen, lösen sie doch zuerst eine Bahnsteigkarte!" (Uljanow)
Und so hat das ominöse gesetzliche "Widerstandsrecht" wohl auch den einzigen Sinn, den Deutschen einzureden, sie hätten ja im Nationalsozialismus Widerstand geleistet, wenn sie denn nur gedurft hätten.
III.
Alles wäre aber nur halb so schlimm, wenn nicht auch die selbsternannte Opposition den Intelligenzquotienten verbriefter Jasager hätte. Daß auch vermeintliche Querdenker – und seien es solche, die vorgeben, besonders das Nachdenken anzuregen – ihren Adressaten keinen Zentimeter autonomer Gedankenführung zutrauen, zeigt exemplarisch die folgende Instruktion: "Werben Sie bitte für die Lektüre und Weitergabe dieses Buches" oder Flugblatts. "Geben Sie Ihr eigenes Exemplar zur Lektüre an Freunde und Bekannte weiter, nutzen Sie es als Geschenk und empfehlen Sie es weiter." "Deshalb die Bitte: Weitersagen. [...] Oder: Drucken Sie interessante Artikel aus [...] und geben Sie diese an Ihre Freunde und Bekannten weiter. Oder nutzen Sie immer mal wieder Ihren E-Mail-Verteiler zum Versenden von solchen besonders informativen und aufklärenden Beiträgen." So die hilfreichen Tips der sogenannten NachDenkSeiten ("Die kritische Webseite", originellerweise "für alle, die sich noch eigene Gedanken machen", nicht ohne dabei offenbar betreut werden zu müssen). Die Rede ist übrigens von einem Buch mit dem bezeichnenden Titel "Glaube wenig. Hinterfrage alles. Denke selbst". Ich wage die Behauptung, daß es mit dem Selberdenken – oder auch nur gerne Denken – bei Leuten nicht so weit her ist, die sich von Zwei-Wort-Sätzen ködern lassen. Und gerne Imperativen folgen.
²) Es hätte auch die amtierende Bundesbeauftragte für Kultur und Medien, Monika Grütters, sein können; übrigens nicht nur optisch eine Wiedergängerin von Birgit Breuel, sondern der ehemaligen Treuhand-Chefin und Expo-2000-Generalkommissarin – wenn auch in anderem Ressort der ideologischen Staatsapparate – als Funktionärin durchaus ebenbürtig. Ein Schuft, wer da an die Reichskulturkammer denkt.
³) Hat doch schnell jeder eine Meinung zum Einwechseln von Spieler X seitens des Trainers Y oder zum Abgasgrenzwert der Regierung.