Kommunale Herzenswärme, Triumph der Sachlichkeit

Ein Kommentar der Redaktion Sachzwang FM

Wie steht Karlsruhe zur Zeit da? Wie präsentiert sich Karlsruhe? Diese Frage war der diskursive Opener in den Querfunk-Interviews, die vor der Kommunalwahl 2019 den Kandidatinnen und Kandidaten der diversen antretenden Parteien, Bürgerlisten und Wahlbündnisse gestellt wurde. Und die (wohl unfreiwillig) biedermeierliche Frage steht auch schon paradigmatisch für einen Interview-Stil, der sich nicht an den Positionen der Interviewten abarbeitet, sondern diese frei flottierend – schließlich sind wir ein Freies Radio – ihr eigenes Selbstbild in die Öffentlichkeit hinaus propagieren läßt. Ja wie stehen wir denn da, in der Welt? Wie präsentieren wir uns? Eine Frage, die seither – bumerangmäßig – auch das Freie Radio umtreibt, das sich doch immer als kritisches Medium begriffen hatte.

Die Kardinalfragen der Kommunalpolitik sind jedoch nicht die der Reputation, sondern die des bestmöglichen Umgangs mit vorgefundenen Sachzwängen, es sind die Fragen von Budget und Priorität, von „nachbarschaftlichem Miteinander“ und unmittelbarer Evidenz des vorgeblich gesunden Menschenverstandes, wenn alle weitergehenden und interessanten Fragen als „ideologisch“ und „unrealistisch“ verworfen sind. Diese sind höchstens dazu bestimmt, wenn nicht der Lächerlichkeit, so doch der Müßigkeit preisgegeben zu werden, man hebt sie sich nämlich für Sonntagsreden auf. Im bürgerlichen Tagesgeschäft hingegen haben sie nichts zu suchen, da geht es um Gewerbeflächen und Umgehungsstraßen, um Wohnraum und Kulturförderung. Und natürlich wirft sich im Interview – wenig überraschend – beinahe jeder für jedes dieser Anliegen in die Bresche, das hört sich zunächst mal prima an. „Sachpolitik“ nennen das die Protagonisten, und schon der sachliche Klang des sachlichen Wortes enthebt es jeder Kritik, die darüber als weltfremd und eben ideologisch erscheint. Getreu jener Einlassung Helmut Schmidts, wer Visionen habe, solle besser zum Arzt gehen als in die Politik, herrscht gerade in der Kommunalpolitik mit ihrer kleinen Welt, die schon fast eine heile ist, ein Politikverständnis vor, das an Handwerk erinnert. Das kommt gut an bei Leuten, die nicht zuletzt in ihrem beruflichen Gehäuse vom Denken entwöhnt sind. Und man wartet bei den positiven Sachwaltern diesseitiger Sachpolitik nur auf den Augenblick, in dem neben einer zweiten Rheinbrücke eine zweite Justizvollzugsanstalt oder ein zwölftes Flüchtlingslager diskutabel erscheint. Aber nicht in unserer Nachbarschaft! Erhöhte Polizeipräsenz scheint eh der Fluchtpunkt aller „besorgten Bürger“ zu sein, ungeachtet des schlechten Rufs, den das Wort Polizeistaat – noch – genießt.

Angesichts einer Kritik der Kommunalpolitik, wie sie sich in diesem Pamphlet abzeichnet, könnten nun ganz gescheite Linke entgegnen: Will nicht die Kommune, letztendlich der Kommunismus, genau das? Sachorientierte Politik zum Wohle der Menschen; ohne geiferndes Gezänk und weltanschauliches Lamento? Menschen, die die Geschicke ihres Lebens vor Ort in die eigene Hand nehmen und sachorientiert Probleme gemeinsam lösen? Ist also nicht gerade die friedliche Kommunalpolitik Modell einer besseren Welt im Großen?

Die clevere Volte verkennt, daß in einer Welt wie dieser so ziemlich alles ebenso alltäglich wie fundamental falsch eingerichtet ist. Die Kommunen sind nicht mehr als Zweigstellen einer Staatsmacht, die zwischen In- und Ausländern autoritär unterscheidet; die einen Militärapparat unterhält, um im Zweifelsfalle ihre Interessen auch im nicht-einvernehmlichen Modus der Gewalttätigkeit durchzusetzen. Sowieso arbeiten in der Marktwirtschaft, vulgo: dem Kapitalismus alle Menschen gegeneinander anstatt mit- oder gar füreinander, auch wenn manchmal getan werden muß, als ob. Schon Karl Marx hat sich über die Schizophrenie lustig gemacht, die das moderne Subjekt durchherrscht: Ist der Bürger den Großteil seiner Zeit damit beschäftigt, sein Eigenwohl zu mehren, indem er seine Schäfchen ins Trockene bringt, so muß er andererseits – damit die ganze Veranstaltung in geordneten Bahnen verläuft und nicht in Hauen und Stechen ausartet – wohlmeinender Staatsbürger sein, an Sitten und Gemeinwohl appellieren und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen. Aber Bourgeois und Citoyen, Privatperson und Staatsbürger, lassen sich partout nicht in Harmonie zwingen, stets klafft im Innersten der bürgerlichen Gesellschaft ein Interessenabgrund.

Größtmöglichen Anstoß erregte natürlich, daß mit dem Spitzenkandidaten der „Alternative für Deutschland“ dem Exponenten einer rechtspopulistischen Partei „eine Plattform gegeben“ wurde, sich ungestört zu verbreiten. Doch diese stereotype Kritik greift zu kurz. In keinster Weise erschließt sich, warum man beim bürgerlichen Reputiergehabe mittun muß und einen Politiker als „Dr.“ ankündigen und ansprechen soll. So haben z.B. die kritischen Magazine dieses Radiosenders, von Quergelesen über AgoRadio und Sachzwang FM bis Inkasso Hasso, regelmäßig die Stimmen Intellektueller zu diversen Themen auf dem Schirm, ohne diese jedoch durch Titel wie „Professor“ und „Doktor“ vermeintlich aufzuwerten zu müssen. Schon die bürgerlichen Medien haben Dr. Kohl und Dr. Merkel nicht als doctores geführt, sondern als Politikerinnen wie andere auch.
Biedermeierlich im höchsten Stadium und geradezu entlarvend der Moment, als der interviewte Unionskandidat einräumt, linke Ideen seien, quasi wie in einem hormonellen Affekt, in einem gewissen Lebensalter ganz selbstverständlich und ja auch sympathisch, aber sobald man „Verantwortung“ trage, „eine Familie“ zu ernähren oder eine Stadt zu regieren habe, erledigten sich solche Flausen quasi ganz von selbst. Ansichten und Klischees, die beim Anblick des Werdegangs so mancher Protagonisten der Alternativkultur – so auch beim Freien Radio – nicht ganz von der Hand zu weisen sind. Das Urheberrecht auf derart volkstümlichen Schwachsinn hat aber jener, der dichtete: „Wer mit zwanzig kein Kommunist ist, hat kein Herz; wer mit dreißig noch Kommunist ist, hat keinen Verstand.“² Reife bemißt sich also in Kompromittierung.
Fast schon wieder lustig, eigentlich aber nur grotesk und haarsträubend, daß sich ausgerechnet Wirtschaftsliberale unwidersprochen als umsichtige Sozialpolitiker gerieren. Dabei hat sich doch ihre Partei offen dazu bekannt, für eine Gesellschaft zu stehen, die „selbstverständlich auch die Freiheit zu scheitern“ einschließt (Wolfgang Gerhardt).
Wahrscheinlich nur ein Zufall und hoffentlich nicht bezeichnend, daß zu guter Letzt noch „Viel Erfolg“ gewünscht wurde, und zwar allen interviewten Kandidatinnen und Kandidaten der Kommunalwahl – auch den rechten. Nein, nicht allen: den Grünen nicht.

Wenn man sich schon nicht zutraut, den Kandidaten argumentativ in die Parade zu fahren (denn nichts anderes als eine Parade war die monologische Selbstinszenierung der Wählbaren), dann wäre zumindest eine Art Podiumsdiskussion zwischen Kontrahenten hübsch gewesen, sodaß diese sich gegenseitig konterkarieren – und die Selbstherrlichkeit ihrer Selbstdarstellung wechselseitig neutralisieren. Die dauerregierenden Volksparteien hätte man so mit den sich als Sachwaltern der Basis aufspielenden Kleinparteien und Bürgerlisten konfrontieren müssen (quasi als einen Kampf um die Mitte), die rechtslastigen Volksempfinder und -vertreter im Wartestand zumindest mit aufgeklärten linken Politikanten konfrontieren müssen, um dem substantiellen Gehalt ihrer Stimmungsmache auf den Zahn zu fühlen. Jede bessere Talkshow in öffentlich-rechtlichen Medien beherrscht diese kleindialektische Disziplin aus dem Eff-eff.

Doch zurück zu den heimeligen Untiefen von Kommunalpolitik. Zielen wie regionaler Wirtschaftsförderung scheint per se ein positiver Wert zuzukommen. Ebenso „Mittelstand“ und „Familie“. Es gibt ja keine einzige politische Partei, die diesen Fetischen nicht – zumindest verbal – huldigt; woran sich die Frage anschließt, warum ausgerechnet diese schutzbedürftig seien, um deren Wohl sich doch ein jeder sorge. Jedenfalls ist man hier längst im Modus des Beschwörens angekommen: Familie, Gemeinwohl und Mittelstand werden allzeit und allenthalben beschworen.

Schon der klebrige Klang des Wortes Gemeinschaft, denn Kommune heißt Gemeinde, ist aber reaktionär. Es ist kein Zufall, daß gerade die Parteien der rechten Mitte diese Klaviatur der Emotionen am versiertesten bespielen: „Näher am Menschen“ will man da sein, „die Familien“ entlasten, „den Bürger“ stets im Blick haben, wie die Kirchen „den Nächsten“. Die Gemeinschaft unterscheidet von der Gesellschaft bekanntlich, daß Gesellschaft, zu der per definitionem alle dazugehören, ein analytischer Begriff ist, während Gemeinschaft (als normativer Begriff) etwas ist, das eben manche ausschließt und immer wieder hergestellt werden muß. Berüchtigte Beispiele sind die Umma oder die Volksgemeinschaft.

Symptomatisch ist es, daß gerade die schärfsten Ideologen, die nichts dabei finden, Menschen in heimische und ortsfremde zu segregieren (und sei es nur diskursiv, lieber aber noch polizeilich), mit Slogans hausieren gehen wie „Sachpolitik statt Ideologie!“ Solche Bauernfängerei, will sie erfolgreich sein, setzt bereits ein hinreichend verblödetes und denkentwöhntes Publikum kleinbürgerlicher Kretins voraus. So gefährlich – oder wahlweise sinnlos – ihnen Klassenkampf und die scharfe Kontroverse erscheinen, so verinnerlicht haben sie doch Arbeitsethos und den Kampf ums Dasein. Über die Faschismuskompatibilität solcher Menschen sollte man sich keiner Illusion hingeben.

Die selbstgenügsame Boykottier-Taktik mancher linksliberaler oder -radikaler Vertreter der politischen Öffentlichkeit, die „rechtspopulistische“ Partei aus dem Diskurs auszuschließen, quasi einen demokratischen Bann über die auszusprechen, „die unsere Spielregeln verletzen“, war von Anfang an nicht mit Argumenten nachvollziehbar. Denn zum einen ist natürlich das, was als „Populismus“ geschmäht wird, nichts anderes als das Zerrbild einer Demokratie, sprich: Volksherrschaft, die doch beständig gefeiert wird; vor allem da, wo es mehr um politische Formen als um Inhalte geht. Zum anderen müßte, wenn ein Bann der Polit-Gefährder Sinn machen würde, dieser zugleich über all die Kräfte verhängt werden, die erst einer Situation vorgearbeitet haben, in der die Gefährder massenhaft Zuspruch finden. Und dies sind jene Parteien, die – seit bundesrepublikanischem Menschengedenken (weiter reicht das Denkvermögen eh kaum) – Regierungsverantwortung tragen; also kurioserweise just die, die vor dem „Erstarken“ der Bösen nun warnend den Zeigefinger erheben.

Die radikal sich gebärdende Tendenz, Kontrahenten ausschließen zu wollen,³ ist offenbar administrativer und nicht diskursiver Praxis. Sie zeugt von der Angst, gegenüber dem politischen Gegner nicht den nötigen Intellekt oder Drive aufbringen zu können, um ihm adäquat und souverän zu begegnen. Sie ist Offenbarungseid auch darin, daß man den Adressaten der Öffentlichkeit keine eigene Urteilsfähigkeit mehr zutraut. Kurzum: Sie ist autoritär und genuines Urbild politischer Polizei.

Die letzte Frage des Interviews ging in die Richtung, wie die Tätigkeit oder auch nur bloße Existenz des Freien Radios in der Stadt wahrgenommen wird. Böse Zungen könnten unken, daß für derart unkritischen Journalismus nun hiermit in einer Art Handreichung eine kommunale Lobby für Querfunk herbeigetauscht werden solle. Das hochmoralische Angebot wurde (zumindest verbal) partout angenommen, und tatsächlich: Auch liberale wie konservative Interviewpartner brachten die wertvolle Arbeit derer, sie sie offenbar für proper provinzielles Bürgerradio im „Ehrenamt“ halten, zur Wertschätzung. Auf die Frage, wie man persönlich unser Treiben beurteilt, wurde bisweilen gelogen, daß sich die Balken biegen. Hoffentlich nur eine höflichen Geste auf Gegenseitigkeit – angesichts der handzahmen Talkrunde –, denn sollte das Lob für unser Tun aufrichtig ernstgemeint gewesen sein, müßten wir uns fragen: Was haben wir bloß falsch gemacht?

 

 

 

²) Dem ließe sich entgegnen: Wer 1815 nicht liberaler Demokrat ist, hat kein Herz. Wer 1915 noch liberaler Demokrat ist, hat keinen Verstand.

³) und dazu gehören auch Trillerpfeifenkonzerte und ähnliche auf bloßer Lautstärke, dem akustischen Pendant physischen Kräftemessens (sprich: Gewalt), beruhende Formen von „Protest“