Schauprozeß in Staatsbürgerkunde: Wir sind das Volksgericht

Ein Kommentar

Das unfaßbare Grauen vom 11. September 2001 gab seither immer wieder Anlaß zum virtuellen Durchspielen des Szenarios, daß große Passagierflugzeuge nicht nur an ein anderes Ziel entführt, sondern als Waffe in Gebäude und Menschenmassen gelenkt werden, etwa in Fußballstadien, Konzertarenen oder Kernkraftwerke. In einem bisher noch fiktiven Fernsehspiel – das jederzeit, nach dem „Ernstfall“, als Dokuspiel wiederkehren kann – wurde dem geneigten Sesselpublikum am 17. Oktober 2016 zur prime time ein solcher Fall präsentiert. Die Frage, die sich Praktikern dann stellt, ist die: „Darf man 164 unschuldige Menschen töten, um 70.000 zu retten? Die Anklage der Staatsanwältin lautet auf Mord an 164 Menschen. […] Dagegen plädiert der Verteidiger auf Freispruch. Er sieht in seinem Mandanten keinen Mörder, sondern einen Helden, der 70.000 Menschen vor einem Terroranschlag gerettet und in einer ausweglosen Situation die Verantwortung übernommen hat.“

Was man bekam und was auch gar nicht ausbleiben konnte, war ein veritabler Schau-Prozeß im wortwörtlichen Sinne. So gutartig und ambitioniert es nämlich sein mag, der demokratischen Öffentlichkeit, also dem ordinären Fernsehpublikum auch mal eine dialektische Kontroverse zuzumuten – die sich aber fast naturwüchsig doch wieder nur als moralisches Dilemma und hölzernes Lehrstück ausnimmt –, so reaktionär mußte es angesichts der ernüchternden Faktenlage, daß die „demokratische Öffentlichkeit“ doch nur „das Volk“ ist und daß „Das Volk spricht“ oder „Das Volk richtet“ nichts gutes erahnen läßt, ausfallen. Klar, wie sich derartige Volksentscheide angesichts affektierter Öffentlichkeiten bei Reizthemen wie Pädophilie, Kindesentführungen usw. in puncto Todesstrafe oder Aufweichung des Folterverbots abspielen werden. Denn wird die Bevölkerung zum Souverän, ohne daß Staat und Herrschaft aufhören, dann wird die Bevölkerung zum Volk, zum monolithischen und selbstgerechten Autokraten, dessen Urteilsspruch wahrlich nichts gutes verheißt. Das Volk in seinem Selbstbild ist „hart, aber fair“.
Das TV-Event wurde produziert nach Ferdinand von Schirachs Theaterstück „Terror“. Genau, Schirach, Enkel des Baldur von Schirach, Führer des NS-Studentenbunds und Reichsjugendführer. Daß Abkömmlinge von Nazigrößen im öffentlichen Kulturbetrieb reüssieren, ist ja nichts neues: Maria Furtwängler, nicht nur als forsche blonde „Tatort“-Kommissarin bekannt, sondern pikanterweise auch als adlige deutsche Unschuld im Vertriebenendrama „Die Flucht“ (2007), ist Enkelin des berühmten Dirigenten und Vizepräsidenten der NS-Reichsmusikkammer Wilhelm Furtwängler.

Doch zurück zum Fernsehspiel „Terror – Ihr Urteil“. Zunächst einmal war der Gerichtssaal von ganz eigener Art. Eine grelle Satire, eine krasse Dystopie hätte kaum einen häßlicheren, finstereren und kühleren Saal erfinden können, höchstens einen noch größeren. Die totalitäre, Souveränität einflößende Architektur paßt so überhaupt nicht zum zivilisierten Selbstbild der bundesdeutschen Demokratie samt Bürgergesellschaft und Antitotalitarismusdoktrin. Inmitten dieser ehrfurchtgebietenden und einschüchternden Herrschaftsarchitektur: Burghart Klaußner (der erst neulich ebenso als prügelnder Pastor in „Das weiße Band“ geglänzt wie aber auch die antifaschistische Hauptfigur in „Der Staat gegen Fritz Bauer“ abgegeben hatte) als fleischgewordene Staatsgewalt und personifizierte Bürokratie, als deutscher Richter, der zwar nicht herumgeifern und -poltern muß wie ein Freisler oder Wyschinski, der es aber in Amts-adäquater Selbstgerechtigkeit mit den schlimmsten Unsympathen aufnehmen kann.

Warum der angeklagte Kampfpilot, der „die Entscheidung getroffen“, „die Verantwortung übernommen“ hat, ausgerechnet in Uniform vor dem Gericht erscheinen mußte, bleibt unklar. War so die Phrase vom „Staatsbürger in Uniform“ gemeint, daß er also als ziviler Mensch gar nicht existiert sondern nur als Funktionsträger, Pflichterfüller und Befehlsempfänger? Zu vermuten ist, daß der autoritär gepolten Mehrheitsgesellschaft das, was man so pathetisch den Ernst der Lage zu nennen gelernt hat, durch einen aufrecht, ja steif dasitzenden uniformierten jungen Mann am greifbarsten vermittelt werden konnte. Immerhin trug er nicht diesen Hitlerjugend-Haarschnitt, wie er seit ein paar Jahren wieder en vogue ist, aber der Soldat war ja auch als Anfang 30 und nicht 20 Jahre alt vorgestellt worden.
Die bruchlose Integrität des Elitesoldaten sollte dadurch verbürgt werden, daß er einen „Abiturschnitt von 1,0“ und „das beste Mathematik-Abitur von Baden-Württemberg“ erzielt habe. Dabei ist es doch fraglich, ob diese abenteuerliche Kombination nicht eher einem öffentlichen Wunschbild entsprungen ist: Gerade ein so kluger, ruhiger und sachorientierter Denkertyp, wie ihn die abstrakte höhere Mathematik erfordert, würde wohl kaum dem frühpubertären Kindertraum, Kampfpilot zu werden, nacheifern wie ein refraktärer ADHS-Zappler. Nun gut, solche Killerspielen zugeneigten Egomanen kann die Armee in hochsensiblen Jobs auch nicht wirklich gebrauchen, sondern eher als Kanonenfutter anderswo, um dort Opfer von ihresgleichen zu werden; vielleicht schafft es also auch mal ein qua Notenschnitt zertifizierter Schulstreber in das Cockpit eines mehrere zig Millionen teuren „Kampfjets“ (wie die Düsenjäger und Bomber in neuerer Sprachregelung so verharmlosend genannt werden – denkt man beim Wort Jet doch eher an Stewardessen und Rollkoffer als an Raketen- und Sprengmunition). Jedenfalls fand sich der Kampfpilot ganz allein als Angeklagter vor dem Schwurgericht wieder, es stellte sich heraus, daß es zwar ausdrücklich keinen Befehl zum Abschießen der Passagiermaschine gegeben hatte, aber eine gewisse Gewissensnötigung, die schon oft Thema in den entsprechenden Militäreinheiten gewesen sei.
Natürlich wäre es Wahnsinn zu sagen, es sei egal, ob 164 oder 70.000 Menschen sterben müssen. Wenn, garstig genug, die empirische Welt einem die Entscheidung darüber aufzwingt, ob ein solches „Opfer“ – das insofern ja keines ist – not tut, wüßte wohl jeder intuitiv zu sagen, was zu tun ist. Die „Abwägung“, die „Aufrechnung“, die zivilisiertermaßen ein Tabu darstellt, kann also realiter sogar geboten sein. In Anlehnung an den klassischen Satz, selbst wenn in ganz bestimmten Situationen sogar der Vollzug einer Folter oder Tötung human sein könne, so doch niemals ihre Rechtfertigung (diese bleibe barbarisch),1 tut man allerdings gut daran, auf eine systematische Legitimation des Quälens oder Mordens für das höhere Ziel bzw. das kleinere Übel zu verzichten. Diese wäre in jedem Falle eine Konzession an die Barbarei, das Peinigen und Liquidieren nähme Formen einer regulierten Routine an. Evident ist allemal: Der den Tötungsakt anordnet oder vollzieht, taugt nicht zum Held. Es muß Verzweiflungstat bleiben, und strafwürdig.

Bemerkenswert und aufschlußreich ist, daß die Redewendung „eine Entscheidung zu treffen“ doch immer nur dann bemüht wurde, wenn die Entscheidung für die große Tat gemeint war, der pathetische, der problematische Fall: die Tötung. Und eben nicht eine wirkliche Entscheidung für eine von mindestens zwei alternativen Optionen. „Wir haben uns die Entscheidung nicht leicht gemacht“, ist dann hinterher immer stereotyp zu hören, wie als wenn der Personalchef die Ablehnung einer Bewerbung in eine besonders betroffenheitsheischende Phrase kleiden will oder die Entlassung von „Mitarbeitern“. So reden Leute, die auch immer von „Verantwortung“ sprechen, die sie zu „tragen“ haben, nie von Macht oder Herrschaft, die sie ausüben.
Die Entscheidung, das dem Terror ausgelieferte Flugzeug nicht abzuschießen, ist in dieser autoritären Redeweise, diesem Jargon der Eigentlichkeit, gar keine Entscheidung; Leute, die so entschieden, würden wohl „entscheidungsschwach“ – und für soldatische Zwecke untauglich – genannt werden. Und sogar in der Fernseh-Farce wurde angedeutet, daß solche Soldaten für die wichtigen Posten freilich das Nachsehen haben.

Eine interessante Wendung bekam der Prozeß durch die Befragung der Vorgesetzten des angeklagten Soldaten, die durchscheinen ließ, das Dilemma, die Passagiermaschine rase auf ein vollbesetztes Fußballstadion zu, sei hausgemacht. Es stellte sich nämlich heraus, daß die Militärs es unterlassen hätten, das Stadion räumen zu lassen, obwohl dazu genügend Zeit verblieben war. Um derart, so wurde suggeriert, einen Entscheidungsnotstand und Präzedenzfall zu provozieren. Evident wurde damit, daß – neben den mutmaßlich islamischen Terroristen – eigentlich sie auf der Anklagebank zu sitzen hätten, sie waren aber bei diesem Prozeß nur als Zeugen zugegen. Eine allzu kurze kritische Volte, die sich aber doch bloß klischeehaft als Ressentiment gegen die da oben neutralisieren ließ; denn es ging ja um den uniformierten Gewissenskonfliktler, den Piloten.

Direkt schloß sich an das Fernsehspiel eine Diskussionsrunde an, die im Rahmen der Talkshow „Hart aber fair“ ins Werk gesetzt wurde. Verschiedentlich wurde dort angemerkt, die dramaturgische Inszenierung des Prozesses sei ja schon auf das Klischee des unschuldig schuldig gewordenen Soldaten zugeschnitten. Die Wahl des Darstellers (Florian D. Fitz als Kampfpilot Lars Koch) lasse nicht zufällig „an den jungen Graf Stauffenberg“ denken – der ja von der Propaganda ebenso als tragischer Held und selbstloser Pflichterfüller aufgebaut worden ist seit den frühen Jahren der Bundesrepublik –, ungeachtet der Tatsache, daß die als Demokraten mißverstandenen „Verschwörer des 20. Juli“ mit dem deutschen Angriffs- und Vernichtungskrieg solange keine Probleme hatten, wie dieser noch absehbar seiner siegreichen Vollendung harrte.

In der Talk-Runde auf der einen Seite: Franz-Josef Jung, der sich lange schon mit der Forderung hervorgetan hat, endlich den Ernstfall im Sinne des tragischen Soldaten zu thematisieren und Rechtssicherheit zu schaffen. Nach Verkündigung des Abstimmungsergebnisses, das ganz nach Jungs Geschmack ausgefallen sein dürfte, konnte sich der schmallippige Ex-Kriegsminister (auf den ja der unsägliche Blender Guttenberg folgte) – als er sich nicht von Kameras erfaßt wähnte – ein feistes Grinsen nicht verkneifen, hatte er doch vor der Kamera immer ein routiniert problembewußtes Gesicht aufgesetzt, um die gebotene Seriosität zu simulieren und den Ernst der Lage auch mimisch zu illustrieren.
Gerhart Baum als Konterpart hingegen, längst uncool als notorischer Bedenkenträger, lästiger liberaler Antifaschist und besinnungsloser Prinzipienreiter, kritisierte schon das Setting, in dem sich der durch zunächst einmal nichts qualifizierte Fernsehpöbel zum Volksgericht über diffizile Rechtsfälle aufschwingen durfte, als gäbe es keinen Rechtsstaat und keine Verfassung, sondern seien Abstimmungen das Mittel der Wahl. Mit seinen humanistischen, als „weltfremd“ abgekanzelten Warnungen, der bedingungslose „Schutz des Menschenlebens“, auch des einzelnen, sei nicht verhandelbar, und dies sei eine zentrale Lehre „nach 1945“, wirkte er wie aus der Zeit gefallen und ging so dem neudeutschen Publikum regelrecht auf den Keks, das sich doch längst selbstvergewissert hat, daß „wir“ Aufarbeitungsweltmeister und darum internationale Menschenrechtsexperten und Flüchtlingsmentoren, ehrliche Makler und Mahner in Völker- und internationalen Homosexualitätsfragen sind.
Wenn Menschen wie Baum wieder zum Auslaufmodell werden und sie niemand mehr versteht, dann ist es vielleicht mal wieder an der Zeit, die Koffer zu packen und das Weite zu suchen.

Es nimmt übrigens nicht Wunder, daß die Abstimmung des Fernsehvolks mit 87% zu 13% den Freispruch des uniformierten Helden forderte, das sind über 7/8. Diese satte Mehrheit wird laut Zeitungsmeldungen im AfD-Milieu noch übertroffen, im Linkspartei-Milieu fällt sie am schwächsten aus (obwohl auch hier eine Mehrheit den Freispruch fordert). Klarer Fall.

 

1Weiß jemand, von wem dieser Satz ist? (Kant etwa?)

 

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Sendetermin
Montag, 17. Oktober 2016 - 20:15 bis 21:45
Wiederholung
Sonntag, 20. November 2016 - 20:00 bis 20:01
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