Konzert: Knochenfabrik am 09.10.2014 in der Alten Hackerei

Die Frauen in den Erzählungen von Alice Munro sind keine Heldinnen. Zwischen Verlust und Verlangen verrichten sie ihren Alltag, das Scheitern stets in Sichtweite. Ihre Leben sind angefüllt mit Bündeln von Niederlagen, erduldeten Leiden, gelernten Lektionen, Scherben und Schuld. Und immer wieder geht es dabei um schmerzliche Initiationserfahrungen von sensiblen Mädchen, die an dem Spagat zwischen den sich langsam und unbewusst entwickelnden Wünschen und der Keule der gesellschaftlichen Erwartungen verzweifeln.

Das kann man im Internet gut nachlesen, seit Alice Munro 2013 den Literatur-Nobelpreis verliehen bekam. Und Knochenfabrik widmen sich in ihren Liedern derselben Thematik, nur dass ihre Protagonisten gesellschaftlich als männlich wahrgenommene Wesen (ugs.: Männer) sind.

Die Texte zur Musik sind summenartige Mosaike aus kleinen Dysfunktionen aller Art: “Was ist bloß passiert, dass du den Mut so schnell verlierst und nicht nach Deoroller riechst, dass du kein Inlineskater bist und den Frisörtermin vergisst ..... Schmerzen mit Promill vertreiben, für immer stockbesoffen bleiben, der nächste Kasten ist schon kaltgestellt. Einem Körper der gesund ist, dem genügt ein leerer Geist, wir trinken bis der Alkohol gewinnt. Auch wenn wir nur Statisten sind in einem Film der ständig reißt, wir halten unsre Fahne in den Wind ..... Vor einem buntbemalten Haus, steht ein Streifenpolizist. Er holt den Gummiknüppel raus, nur weil du ungewaschen bist. Und du bist schuldig, weil die Mehrheit es so will. Denn du bist anders als der Rest, weil du dich nicht verarschen lässt. Die scheiß Gesellschaft mach dich krank, du bist ein Punk ..... An einem wunderschönen Tag in einer supernetten Stadt, schwebt ein Typ, der heute Willi heißt und keine Sorgen hat. Die Welt ist schön, und Willi war noch niemals so verliebt, in ein Mädchen, daß es nur in seinem eignen Kino gibt. Und das Mädchen liegt im Gras und kämmt ihr Haar, das blaugestreifte Sommerkleid steht ihr so wunderbar. Er würde sie jetzt gern berühren, doch sein Kopf wird langsam klar.”

Das Grundprinzip des Knochenfabrikkonzertes war, dass es kein Konzert war, sondern eine öffentliche Probe ohne Ausstellungscharakter. Ohne Exposition - wenn es das Wort Imposition in der deutschen Sprache gäbe, könnte ich es jetzt verwenden. Die Musikdarbietung war eine Einladung an alle, an mich, an meine aktuellen und meine vergangenen Sehnsüchte und die Erinnerungen daran. Eine Einladung, einzutauchen in etwas, das sich selbst erschaffen und wieder vergehen lassen kann. Es war ein intergalaktisch schöner Musikabend. Es gab kein Trennendes. Und ohne auch nur einmal mitgesungen zu haben, war ich Teil des Musikmachens gewesen.

Und irgendwann muss es dann aus gewesen sein, das Konzert. Ich weiß nicht mehr. Ich sah noch den Schlagzeuger an der Theke sitzen mit einem Bier vor sich. Und dann sah ich erst wieder, dass ich mein Schlaf-Tshirt doppelt falschrum anhatte, als ich daheim um 6:37 Uhr ohne Wecker aufgewacht bin. Und auf dem immer noch pünktlichen Weg zur Arbeit schämte ich mich ein bisschen vor mir selbst über meinen verinnerlichten vorauseilenden Gehorsam, der meine Augen wie einen Vorhang geöffnet und in der Vergangenheit dafür gesorgt hat, dass ich 50 Euro für eine Eintrittskarte und gastronomische Erfrischungsgetränke erübrigen kann. Das mit dem Punk muss ich wohl noch ein bisschen üben.

Identiflex

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